hohe sittliche und geistige Mission erfüllen soll, ihre leuchtende Fackel auf den Wegen der Menschheit voran zu tragen.
Die Rechtswissenschaft darf daher meines Erachtens nicht bloß die schon in frühern Zeiten zur Geltung gelangten Rechtssätze protokolliren, sondern soll auch die in der Gegenwart wirksame Rechtsüberzeugung neu aussprechen und durch diese Aussprache ihr Anerkennung und Geltung ver- schaffen helfen. Je empfindlicher der Mangel gesetzgeberischer Organe ist, welche für die Fortbildung des Völkerrechts sorgen, um so weniger darf sich die Wissenschaft dieser Aufgabe entziehn.
Freilich muß sie sich auch davor hüten, der Zukunft vorzugreifen. Sie darf nicht unreife Ideen als wirkliche Rechtssätze und selbst dann nicht verkünden, wenn sie ihre Verwirklichung in der Zukunft klar vorhersieht. Das Recht als ein lebendiges ist immer ein gegenwärtiges und unterscheidet sich dadurch sowohl von dem Rechte der Vergangenheit, das nicht mehr ist als von dem Rechte der Zukunft, das noch nicht ist. Vergangenheit und Zukunft leben beide nur insofern, als sie sich in der Gegenwart begegnen und fruchtbar verbinden.
In dieser Gesinnung habe ich, mein verehrter Freund, meine Arbeit aufgefaßt. Die großen Ereignisse des vorigen Jahrs, denen auch Sie mit so lebhafter Theilnahme gefolgt sind, haben mich in dieser Ueberzeugung bestärkt. Wir haben es damals in Deutschland erlebt, daß man im Namen eines veralteten und lebensunfähigen Bundesrechts die naturnothwendige Entwicklung der deutschen Nation zu einem politischen Volke mit aller Gewalt hat verhindern wollen. Allzu lange haben wir unter dem Miß- brauch des Rechts zur Ertödtung des Lebens gelitten. Nachdem endlich, Gott sei Dank, jene falsche Autorität des todten Rechts durch die Preu- ßischen Siege gestürzt und für die Neugestaltung Deutschlands freie Be- wegung erstritten worden ist, darf auch die deutsche Wissenschaft es nicht länger versäumen, das Recht der Entwicklung wie der Völker so der Menschheit offen zu vertreten.
Nach Ihrem Wunsche habe ich auch für eine französische Uebersetzung dieses Werks gesorgt. Dieselbe wird in Bälde ebenfalls im Druck erscheinen. Wenn sich das Buch, das den andern trefflichen Darstellungen des Völker- rechts keine Concurrenz machen, sondern dieselben durch den neuen Versuch
Vorwort.
hohe ſittliche und geiſtige Miſſion erfüllen ſoll, ihre leuchtende Fackel auf den Wegen der Menſchheit voran zu tragen.
Die Rechtswiſſenſchaft darf daher meines Erachtens nicht bloß die ſchon in frühern Zeiten zur Geltung gelangten Rechtsſätze protokolliren, ſondern ſoll auch die in der Gegenwart wirkſame Rechtsüberzeugung neu ausſprechen und durch dieſe Ausſprache ihr Anerkennung und Geltung ver- ſchaffen helfen. Je empfindlicher der Mangel geſetzgeberiſcher Organe iſt, welche für die Fortbildung des Völkerrechts ſorgen, um ſo weniger darf ſich die Wiſſenſchaft dieſer Aufgabe entziehn.
Freilich muß ſie ſich auch davor hüten, der Zukunft vorzugreifen. Sie darf nicht unreife Ideen als wirkliche Rechtsſätze und ſelbſt dann nicht verkünden, wenn ſie ihre Verwirklichung in der Zukunft klar vorherſieht. Das Recht als ein lebendiges iſt immer ein gegenwärtiges und unterſcheidet ſich dadurch ſowohl von dem Rechte der Vergangenheit, das nicht mehr iſt als von dem Rechte der Zukunft, das noch nicht iſt. Vergangenheit und Zukunft leben beide nur inſofern, als ſie ſich in der Gegenwart begegnen und fruchtbar verbinden.
In dieſer Geſinnung habe ich, mein verehrter Freund, meine Arbeit aufgefaßt. Die großen Ereigniſſe des vorigen Jahrs, denen auch Sie mit ſo lebhafter Theilnahme gefolgt ſind, haben mich in dieſer Ueberzeugung beſtärkt. Wir haben es damals in Deutſchland erlebt, daß man im Namen eines veralteten und lebensunfähigen Bundesrechts die naturnothwendige Entwicklung der deutſchen Nation zu einem politiſchen Volke mit aller Gewalt hat verhindern wollen. Allzu lange haben wir unter dem Miß- brauch des Rechts zur Ertödtung des Lebens gelitten. Nachdem endlich, Gott ſei Dank, jene falſche Autorität des todten Rechts durch die Preu- ßiſchen Siege geſtürzt und für die Neugeſtaltung Deutſchlands freie Be- wegung erſtritten worden iſt, darf auch die deutſche Wiſſenſchaft es nicht länger verſäumen, das Recht der Entwicklung wie der Völker ſo der Menſchheit offen zu vertreten.
Nach Ihrem Wunſche habe ich auch für eine franzöſiſche Ueberſetzung dieſes Werks geſorgt. Dieſelbe wird in Bälde ebenfalls im Druck erſcheinen. Wenn ſich das Buch, das den andern trefflichen Darſtellungen des Völker- rechts keine Concurrenz machen, ſondern dieſelben durch den neuen Verſuch
<TEI><text><front><divn="1"><p><pbfacs="#f0015"n="VII"/><fwplace="top"type="header">Vorwort.</fw><lb/>
hohe ſittliche und geiſtige Miſſion erfüllen ſoll, ihre leuchtende Fackel auf<lb/>
den Wegen der Menſchheit voran zu tragen.</p><lb/><p>Die Rechtswiſſenſchaft darf daher meines Erachtens nicht bloß die<lb/>ſchon in frühern Zeiten zur Geltung gelangten Rechtsſätze protokolliren,<lb/>ſondern ſoll auch die in der Gegenwart wirkſame Rechtsüberzeugung neu<lb/>
ausſprechen und durch dieſe Ausſprache ihr Anerkennung und Geltung ver-<lb/>ſchaffen helfen. Je empfindlicher der Mangel geſetzgeberiſcher Organe iſt,<lb/>
welche für die Fortbildung des Völkerrechts ſorgen, um ſo weniger darf<lb/>ſich die Wiſſenſchaft dieſer Aufgabe entziehn.</p><lb/><p>Freilich muß ſie ſich auch davor hüten, der Zukunft vorzugreifen.<lb/>
Sie darf nicht unreife Ideen als wirkliche Rechtsſätze und ſelbſt dann nicht<lb/>
verkünden, wenn ſie ihre Verwirklichung in der Zukunft klar vorherſieht.<lb/>
Das Recht <hirendition="#g">als ein lebendiges iſt immer ein gegenwärtiges</hi> und<lb/>
unterſcheidet ſich dadurch ſowohl von dem Rechte der Vergangenheit, das<lb/><hirendition="#g">nicht mehr iſt</hi> als von dem Rechte der Zukunft, <hirendition="#g">das noch nicht iſt</hi>.<lb/>
Vergangenheit und Zukunft leben beide nur inſofern, als ſie ſich in der<lb/>
Gegenwart begegnen und fruchtbar verbinden.</p><lb/><p>In dieſer Geſinnung habe ich, mein verehrter Freund, meine Arbeit<lb/>
aufgefaßt. Die großen Ereigniſſe des vorigen Jahrs, denen auch Sie mit<lb/>ſo lebhafter Theilnahme gefolgt ſind, haben mich in dieſer Ueberzeugung<lb/>
beſtärkt. Wir haben es damals in Deutſchland erlebt, daß man im Namen<lb/>
eines veralteten und lebensunfähigen Bundesrechts die naturnothwendige<lb/>
Entwicklung der deutſchen Nation zu einem politiſchen Volke mit aller<lb/>
Gewalt hat verhindern wollen. Allzu lange haben wir unter dem Miß-<lb/>
brauch des Rechts zur Ertödtung des Lebens gelitten. Nachdem endlich,<lb/>
Gott ſei Dank, jene falſche Autorität des todten Rechts durch die Preu-<lb/>
ßiſchen Siege geſtürzt und für die Neugeſtaltung Deutſchlands freie Be-<lb/>
wegung erſtritten worden iſt, darf auch die deutſche Wiſſenſchaft es nicht<lb/>
länger verſäumen, das Recht der Entwicklung wie der Völker ſo der<lb/>
Menſchheit offen zu vertreten.</p><lb/><p>Nach Ihrem Wunſche habe ich auch für eine franzöſiſche Ueberſetzung<lb/>
dieſes Werks geſorgt. Dieſelbe wird in Bälde ebenfalls im Druck erſcheinen.<lb/>
Wenn ſich das Buch, das den andern trefflichen Darſtellungen des Völker-<lb/>
rechts keine Concurrenz machen, ſondern dieſelben durch den neuen Verſuch<lb/></p></div></front></text></TEI>
[VII/0015]
Vorwort.
hohe ſittliche und geiſtige Miſſion erfüllen ſoll, ihre leuchtende Fackel auf
den Wegen der Menſchheit voran zu tragen.
Die Rechtswiſſenſchaft darf daher meines Erachtens nicht bloß die
ſchon in frühern Zeiten zur Geltung gelangten Rechtsſätze protokolliren,
ſondern ſoll auch die in der Gegenwart wirkſame Rechtsüberzeugung neu
ausſprechen und durch dieſe Ausſprache ihr Anerkennung und Geltung ver-
ſchaffen helfen. Je empfindlicher der Mangel geſetzgeberiſcher Organe iſt,
welche für die Fortbildung des Völkerrechts ſorgen, um ſo weniger darf
ſich die Wiſſenſchaft dieſer Aufgabe entziehn.
Freilich muß ſie ſich auch davor hüten, der Zukunft vorzugreifen.
Sie darf nicht unreife Ideen als wirkliche Rechtsſätze und ſelbſt dann nicht
verkünden, wenn ſie ihre Verwirklichung in der Zukunft klar vorherſieht.
Das Recht als ein lebendiges iſt immer ein gegenwärtiges und
unterſcheidet ſich dadurch ſowohl von dem Rechte der Vergangenheit, das
nicht mehr iſt als von dem Rechte der Zukunft, das noch nicht iſt.
Vergangenheit und Zukunft leben beide nur inſofern, als ſie ſich in der
Gegenwart begegnen und fruchtbar verbinden.
In dieſer Geſinnung habe ich, mein verehrter Freund, meine Arbeit
aufgefaßt. Die großen Ereigniſſe des vorigen Jahrs, denen auch Sie mit
ſo lebhafter Theilnahme gefolgt ſind, haben mich in dieſer Ueberzeugung
beſtärkt. Wir haben es damals in Deutſchland erlebt, daß man im Namen
eines veralteten und lebensunfähigen Bundesrechts die naturnothwendige
Entwicklung der deutſchen Nation zu einem politiſchen Volke mit aller
Gewalt hat verhindern wollen. Allzu lange haben wir unter dem Miß-
brauch des Rechts zur Ertödtung des Lebens gelitten. Nachdem endlich,
Gott ſei Dank, jene falſche Autorität des todten Rechts durch die Preu-
ßiſchen Siege geſtürzt und für die Neugeſtaltung Deutſchlands freie Be-
wegung erſtritten worden iſt, darf auch die deutſche Wiſſenſchaft es nicht
länger verſäumen, das Recht der Entwicklung wie der Völker ſo der
Menſchheit offen zu vertreten.
Nach Ihrem Wunſche habe ich auch für eine franzöſiſche Ueberſetzung
dieſes Werks geſorgt. Dieſelbe wird in Bälde ebenfalls im Druck erſcheinen.
Wenn ſich das Buch, das den andern trefflichen Darſtellungen des Völker-
rechts keine Concurrenz machen, ſondern dieſelben durch den neuen Verſuch
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. VII. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/15>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.