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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.

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Vorwort.
mit den Mahnungen des Rechts die wilden Leidenschaften des Kriegs
möglichst zu zähmen, hat mich zuerst zu dem Vorsatze angeregt, die Grund-
züge des modernen Völkerrechts in Form eines Rechtsbuchs darzustellen
und Ihre Briefe haben mich ermuthigt, dieses Wagniß durchzuführen.

Ihre Kriegsartikel haben durch die Autorität des Präsidenten Lincoln
eine amtliche Verstärkung erhalten, welche mein Rechtsbuch völlig entbehren
muß. Dasselbe kann nur insofern Autorität gewinnen, als die heutige
civilisirte Welt in ihm einen zeitgemäßen und wahren Ausdruck ihres
Rechtsbewußtseins erkennt, und die Macht auf die öffentliche Meinung achtet.

Meines Erachtens ist die neuere Rechtswissenschaft in einer Beziehung
hinter den Fortschritten der Rechtspraxis zurückgeblieben. Sie hat ihre
Blicke zu lange an der Vergangenheit haften lassen und darüber die Be-
wegung des Lebens nach der Zukunft hin aus dem Gesichte verloren.
Die Wahrheit, daß das gegenwärtige Recht ein gewordenes und
daher wesentlich aus der Vergangenheit zu erklären ist, bedarf der Ergän-
zung durch die andere Wahrheit, daß das gegenwärtige Recht zugleich ein
werdendes und berufen ist, das fortschreitende Leben der Menschheit zu
begleiten. Viele unserer rechtsgelehrten Collegen können sich nicht losmachen
von der hergebrachten Vorstellung, daß das Recht ein unveränderliches
starres System fester äußerer Gesetze sei, welche das menschliche Thun
beschränken. Sie denken sich das Recht, wie eine Mauer und wie Spaliere,
an welchen der Gärtner die rankenden Pflanzen anbindet, wie ein Messer,
womit er die geilen Triebe wegschneidet. Nur schwer ringt sich die Wissen-
schaft zu dem tieferen Verständniß durch, daß das Recht eine lebendige
Ordnung in der Menschheit
, nicht eine todte außer der Menschheit
sei, daß nur das lebendige und nicht das todte Recht befähigt
sei, mit den Völkern zu leben und fortzuschreiten. Am wenigsten paßt
jener falsche Gedanke eines an sich todten Rechts zu einer Darstellung des
Völkerrechts, das überall noch nicht zu festem Abschluß gekommen, sondern
noch in mächtiger unaufhaltsamer Bewegung begriffen ist. Das Recht
des natürlichen Wachsthums der Völker und Staten
, das
Recht der Entwicklung der Menschheit, das Recht des fort-
schreitenden Lebens
muß von der Wissenschaft unzweideutiger und
entschiedener als bisher anerkannt und vertreten werden, wenn dieselbe ihre

Vorwort.
mit den Mahnungen des Rechts die wilden Leidenſchaften des Kriegs
möglichſt zu zähmen, hat mich zuerſt zu dem Vorſatze angeregt, die Grund-
züge des modernen Völkerrechts in Form eines Rechtsbuchs darzuſtellen
und Ihre Briefe haben mich ermuthigt, dieſes Wagniß durchzuführen.

Ihre Kriegsartikel haben durch die Autorität des Präſidenten Lincoln
eine amtliche Verſtärkung erhalten, welche mein Rechtsbuch völlig entbehren
muß. Dasſelbe kann nur inſofern Autorität gewinnen, als die heutige
civiliſirte Welt in ihm einen zeitgemäßen und wahren Ausdruck ihres
Rechtsbewußtſeins erkennt, und die Macht auf die öffentliche Meinung achtet.

Meines Erachtens iſt die neuere Rechtswiſſenſchaft in einer Beziehung
hinter den Fortſchritten der Rechtspraxis zurückgeblieben. Sie hat ihre
Blicke zu lange an der Vergangenheit haften laſſen und darüber die Be-
wegung des Lebens nach der Zukunft hin aus dem Geſichte verloren.
Die Wahrheit, daß das gegenwärtige Recht ein gewordenes und
daher weſentlich aus der Vergangenheit zu erklären iſt, bedarf der Ergän-
zung durch die andere Wahrheit, daß das gegenwärtige Recht zugleich ein
werdendes und berufen iſt, das fortſchreitende Leben der Menſchheit zu
begleiten. Viele unſerer rechtsgelehrten Collegen können ſich nicht losmachen
von der hergebrachten Vorſtellung, daß das Recht ein unveränderliches
ſtarres Syſtem feſter äußerer Geſetze ſei, welche das menſchliche Thun
beſchränken. Sie denken ſich das Recht, wie eine Mauer und wie Spaliere,
an welchen der Gärtner die rankenden Pflanzen anbindet, wie ein Meſſer,
womit er die geilen Triebe wegſchneidet. Nur ſchwer ringt ſich die Wiſſen-
ſchaft zu dem tieferen Verſtändniß durch, daß das Recht eine lebendige
Ordnung in der Menſchheit
, nicht eine todte außer der Menſchheit
ſei, daß nur das lebendige und nicht das todte Recht befähigt
ſei, mit den Völkern zu leben und fortzuſchreiten. Am wenigſten paßt
jener falſche Gedanke eines an ſich todten Rechts zu einer Darſtellung des
Völkerrechts, das überall noch nicht zu feſtem Abſchluß gekommen, ſondern
noch in mächtiger unaufhaltſamer Bewegung begriffen iſt. Das Recht
des natürlichen Wachsthums der Völker und Staten
, das
Recht der Entwicklung der Menſchheit, das Recht des fort-
ſchreitenden Lebens
muß von der Wiſſenſchaft unzweideutiger und
entſchiedener als bisher anerkannt und vertreten werden, wenn dieſelbe ihre

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[VI/0014] Vorwort. mit den Mahnungen des Rechts die wilden Leidenſchaften des Kriegs möglichſt zu zähmen, hat mich zuerſt zu dem Vorſatze angeregt, die Grund- züge des modernen Völkerrechts in Form eines Rechtsbuchs darzuſtellen und Ihre Briefe haben mich ermuthigt, dieſes Wagniß durchzuführen. Ihre Kriegsartikel haben durch die Autorität des Präſidenten Lincoln eine amtliche Verſtärkung erhalten, welche mein Rechtsbuch völlig entbehren muß. Dasſelbe kann nur inſofern Autorität gewinnen, als die heutige civiliſirte Welt in ihm einen zeitgemäßen und wahren Ausdruck ihres Rechtsbewußtſeins erkennt, und die Macht auf die öffentliche Meinung achtet. Meines Erachtens iſt die neuere Rechtswiſſenſchaft in einer Beziehung hinter den Fortſchritten der Rechtspraxis zurückgeblieben. Sie hat ihre Blicke zu lange an der Vergangenheit haften laſſen und darüber die Be- wegung des Lebens nach der Zukunft hin aus dem Geſichte verloren. Die Wahrheit, daß das gegenwärtige Recht ein gewordenes und daher weſentlich aus der Vergangenheit zu erklären iſt, bedarf der Ergän- zung durch die andere Wahrheit, daß das gegenwärtige Recht zugleich ein werdendes und berufen iſt, das fortſchreitende Leben der Menſchheit zu begleiten. Viele unſerer rechtsgelehrten Collegen können ſich nicht losmachen von der hergebrachten Vorſtellung, daß das Recht ein unveränderliches ſtarres Syſtem feſter äußerer Geſetze ſei, welche das menſchliche Thun beſchränken. Sie denken ſich das Recht, wie eine Mauer und wie Spaliere, an welchen der Gärtner die rankenden Pflanzen anbindet, wie ein Meſſer, womit er die geilen Triebe wegſchneidet. Nur ſchwer ringt ſich die Wiſſen- ſchaft zu dem tieferen Verſtändniß durch, daß das Recht eine lebendige Ordnung in der Menſchheit, nicht eine todte außer der Menſchheit ſei, daß nur das lebendige und nicht das todte Recht befähigt ſei, mit den Völkern zu leben und fortzuſchreiten. Am wenigſten paßt jener falſche Gedanke eines an ſich todten Rechts zu einer Darſtellung des Völkerrechts, das überall noch nicht zu feſtem Abſchluß gekommen, ſondern noch in mächtiger unaufhaltſamer Bewegung begriffen iſt. Das Recht des natürlichen Wachsthums der Völker und Staten, das Recht der Entwicklung der Menſchheit, das Recht des fort- ſchreitenden Lebens muß von der Wiſſenſchaft unzweideutiger und entſchiedener als bisher anerkannt und vertreten werden, wenn dieſelbe ihre

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. VI. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/14>, abgerufen am 21.11.2024.