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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Zehntes Capitel. Rechte und Verpflichtungen der Statsbeamten.
Statsdiener darf nicht verlangt werden, was der Mensch
zu verweigern durch das Menschenrecht, der Religions-
genosse
durch das Gebot der Religion, oder der Bürger
durch das Strafgesetz des States selbst verpflichtet ist.

c) Der blosze gesetzwidrige oder ungerechte Inhalt
einer Verfügung aber berechtigt den subalternen Beamten
keineswegs zum Ungehorsam, sondern wieder nur dazu, die
ihm nöthig scheinenden Vorstellungen der Oberbehörde vorzu-
tragen. Der Beamte darf voraussetzen, dasz diese nicht habe
dem Gesetz oder der Gerechtigkeit zuwider handeln wollen.
Es ist möglich, dasz sie die Sache selbst nicht nach allen
Seiten geprüft, die schädlichen Folgen einer Gesetzesverletzung
übersehen, möglich dass die bescheidene oder freimüthige Auf-
klärung darüber eine Aenderung des Auftrages zur Folge habe.
Der Beamte darf nicht versäumen, auch seine Oberbehörde
wie den Stat selbst vor einem Miszgriffe zu bewahren, den
jene später bereuen würden, wenn er das durch seine Bericht-
erstattung zu erreichen vermag. Hilft aber diese nicht, und
beharrt die vorgesetzte Behörde auf ihrer Instruction, dann
ist Gehorsam Pflicht des Unterbeamten. Dann aber hat die
Verantwortlichkeit dafür nicht dieser, sondern jene allein zu
tragen. Die entgegengesetzte Annahme würde die Einheit der
Statsregierung auflösen und ihre Macht lähmen, und so für
die Statsordnung weit verderblichere Folgen haben, als eine
einzelne Gesetzwidrigkeit, für welche die befehlende Behörde
verantwortlich ist.2


2 Dieser Grundsatz ist auch in einzelnen Verfassungen ausdrücklich
ausgesprochen; z. B. für Hannover 1833, §. 161: "In gehöriger Form
erlassene Befehle vorgesetzter Behörden befreien sie (die Beamten) von
der Verantwortung und übertragen dieselbe an den Befehlenden," und
von Meiningen §. 104 und von Altenburg §. 37 geradezu: "Die
Verantwortlichkeit für jede gesetzwidrige Verfügung haftet zunächst auf
demjenigen, von welchem sie ausgegangen ist; Befehle einer höhern Be-
hörde decken solche nur, wenn sie in gehöriger Form von dem compe-
tenten Obern ausgegangen sind, wodurch dann dieser verantwortlich

Zehntes Capitel. Rechte und Verpflichtungen der Statsbeamten.
Statsdiener darf nicht verlangt werden, was der Mensch
zu verweigern durch das Menschenrecht, der Religions-
genosse
durch das Gebot der Religion, oder der Bürger
durch das Strafgesetz des States selbst verpflichtet ist.

c) Der blosze gesetzwidrige oder ungerechte Inhalt
einer Verfügung aber berechtigt den subalternen Beamten
keineswegs zum Ungehorsam, sondern wieder nur dazu, die
ihm nöthig scheinenden Vorstellungen der Oberbehörde vorzu-
tragen. Der Beamte darf voraussetzen, dasz diese nicht habe
dem Gesetz oder der Gerechtigkeit zuwider handeln wollen.
Es ist möglich, dasz sie die Sache selbst nicht nach allen
Seiten geprüft, die schädlichen Folgen einer Gesetzesverletzung
übersehen, möglich dass die bescheidene oder freimüthige Auf-
klärung darüber eine Aenderung des Auftrages zur Folge habe.
Der Beamte darf nicht versäumen, auch seine Oberbehörde
wie den Stat selbst vor einem Miszgriffe zu bewahren, den
jene später bereuen würden, wenn er das durch seine Bericht-
erstattung zu erreichen vermag. Hilft aber diese nicht, und
beharrt die vorgesetzte Behörde auf ihrer Instruction, dann
ist Gehorsam Pflicht des Unterbeamten. Dann aber hat die
Verantwortlichkeit dafür nicht dieser, sondern jene allein zu
tragen. Die entgegengesetzte Annahme würde die Einheit der
Statsregierung auflösen und ihre Macht lähmen, und so für
die Statsordnung weit verderblichere Folgen haben, als eine
einzelne Gesetzwidrigkeit, für welche die befehlende Behörde
verantwortlich ist.2


2 Dieser Grundsatz ist auch in einzelnen Verfassungen ausdrücklich
ausgesprochen; z. B. für Hannover 1833, §. 161: „In gehöriger Form
erlassene Befehle vorgesetzter Behörden befreien sie (die Beamten) von
der Verantwortung und übertragen dieselbe an den Befehlenden,“ und
von Meiningen §. 104 und von Altenburg §. 37 geradezu: „Die
Verantwortlichkeit für jede gesetzwidrige Verfügung haftet zunächst auf
demjenigen, von welchem sie ausgegangen ist; Befehle einer höhern Be-
hörde decken solche nur, wenn sie in gehöriger Form von dem compe-
tenten Obern ausgegangen sind, wodurch dann dieser verantwortlich
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[621/0639] Zehntes Capitel. Rechte und Verpflichtungen der Statsbeamten. Statsdiener darf nicht verlangt werden, was der Mensch zu verweigern durch das Menschenrecht, der Religions- genosse durch das Gebot der Religion, oder der Bürger durch das Strafgesetz des States selbst verpflichtet ist. c) Der blosze gesetzwidrige oder ungerechte Inhalt einer Verfügung aber berechtigt den subalternen Beamten keineswegs zum Ungehorsam, sondern wieder nur dazu, die ihm nöthig scheinenden Vorstellungen der Oberbehörde vorzu- tragen. Der Beamte darf voraussetzen, dasz diese nicht habe dem Gesetz oder der Gerechtigkeit zuwider handeln wollen. Es ist möglich, dasz sie die Sache selbst nicht nach allen Seiten geprüft, die schädlichen Folgen einer Gesetzesverletzung übersehen, möglich dass die bescheidene oder freimüthige Auf- klärung darüber eine Aenderung des Auftrages zur Folge habe. Der Beamte darf nicht versäumen, auch seine Oberbehörde wie den Stat selbst vor einem Miszgriffe zu bewahren, den jene später bereuen würden, wenn er das durch seine Bericht- erstattung zu erreichen vermag. Hilft aber diese nicht, und beharrt die vorgesetzte Behörde auf ihrer Instruction, dann ist Gehorsam Pflicht des Unterbeamten. Dann aber hat die Verantwortlichkeit dafür nicht dieser, sondern jene allein zu tragen. Die entgegengesetzte Annahme würde die Einheit der Statsregierung auflösen und ihre Macht lähmen, und so für die Statsordnung weit verderblichere Folgen haben, als eine einzelne Gesetzwidrigkeit, für welche die befehlende Behörde verantwortlich ist. 2 2 Dieser Grundsatz ist auch in einzelnen Verfassungen ausdrücklich ausgesprochen; z. B. für Hannover 1833, §. 161: „In gehöriger Form erlassene Befehle vorgesetzter Behörden befreien sie (die Beamten) von der Verantwortung und übertragen dieselbe an den Befehlenden,“ und von Meiningen §. 104 und von Altenburg §. 37 geradezu: „Die Verantwortlichkeit für jede gesetzwidrige Verfügung haftet zunächst auf demjenigen, von welchem sie ausgegangen ist; Befehle einer höhern Be- hörde decken solche nur, wenn sie in gehöriger Form von dem compe- tenten Obern ausgegangen sind, wodurch dann dieser verantwortlich

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 621. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/639>, abgerufen am 22.11.2024.