Vierundzwanzigstes Capitel. V. Zusammengesetzte Statsformen.
Preuszen, Bayern, Sachsen u. s. f.) und der Gesammtstat ist eben so frei in seinen Bewegungen und zwar ebenso ausge- stattet mit Organen wie ein Einheitsstat. Die Landesstaten aber sind keine Vasallen des Gesammtstates, sondern inner- halb ihres Bereiches wieder selbständig wie Einheitsstaten. 4
Die Möglichkeit eines solchen Nebeneinanderseins zweier Staten auf demselben Gebiete wird dadurch hergestellt, dasz einerseits die Competenzen der beiderlei Staten scharf aus- geschieden werden und für friedliche Erledigung allfälliger Conflicte gesorgt ist, und dasz andererseits die beiderlei Behörden und Repräsentativkörper möglichst von einander getrennt und wechselseitig unabhängig erhalten wer- den. Am vollständigsten ist diese Scheidung auch der Per- sonen (Aemter) in dem nordamerikanischen Bundesstate durchgeführt worden, die Ausscheidung der Competenzen aber auch in der schweizerischen Bundesverfassung mit be- sonderer Sorgfalt geregelt worden. 5 In dem deutschen Bun- desreiche sind die Organe der Bundesregierung noch mit den Organen der einzelstatlichen Regierungen eng verbunden, so jedoch, dasz in dem König von Preuszen als deutscher Kaiser die Eigenschaft des Einen Bundeshaupts sichtbar wird, und dasz der Reichstag von den Kammern der Einzelstaten ganz getrennt ist. Die Competenzen des Reiches aber sind keines- wegs scharf geschieden von denen der Landesstaten; sie sind im Gegentheil mit Absicht flüssig erhalten; aber es ist durch die Reichsverfassung, welche jeder Zeit dem Reichsgesetz den Vorzug vor dem Landesgesetz zusichert, aber zugleich in dem
4 G. Waitz, Grundzüge der Politik. Kiel 1862. S. 44 f.: "Beide, die Bundesgewalt und die Gewalt der Einzelstaten müssen in ihrer Sphäre selbständig (souverain) sein; diese darf ihre Gewalt nicht von jener empfangen, jene nicht auf Uebertragung dieser beruhen." S. 153: "Wesen des Bundesstats."
5 Vgl. Rüttimann über die für Realisirung des Bundesrechts zu Gebote stehenden Organe und Zwangsmittel der schweizerischen Eidge- nossenschaft. Zürich 1862.
Vierundzwanzigstes Capitel. V. Zusammengesetzte Statsformen.
Preuszen, Bayern, Sachsen u. s. f.) und der Gesammtstat ist eben so frei in seinen Bewegungen und zwar ebenso ausge- stattet mit Organen wie ein Einheitsstat. Die Landesstaten aber sind keine Vasallen des Gesammtstates, sondern inner- halb ihres Bereiches wieder selbständig wie Einheitsstaten. 4
Die Möglichkeit eines solchen Nebeneinanderseins zweier Staten auf demselben Gebiete wird dadurch hergestellt, dasz einerseits die Competenzen der beiderlei Staten scharf aus- geschieden werden und für friedliche Erledigung allfälliger Conflicte gesorgt ist, und dasz andererseits die beiderlei Behörden und Repräsentativkörper möglichst von einander getrennt und wechselseitig unabhängig erhalten wer- den. Am vollständigsten ist diese Scheidung auch der Per- sonen (Aemter) in dem nordamerikanischen Bundesstate durchgeführt worden, die Ausscheidung der Competenzen aber auch in der schweizerischen Bundesverfassung mit be- sonderer Sorgfalt geregelt worden. 5 In dem deutschen Bun- desreiche sind die Organe der Bundesregierung noch mit den Organen der einzelstatlichen Regierungen eng verbunden, so jedoch, dasz in dem König von Preuszen als deutscher Kaiser die Eigenschaft des Einen Bundeshaupts sichtbar wird, und dasz der Reichstag von den Kammern der Einzelstaten ganz getrennt ist. Die Competenzen des Reiches aber sind keines- wegs scharf geschieden von denen der Landesstaten; sie sind im Gegentheil mit Absicht flüssig erhalten; aber es ist durch die Reichsverfassung, welche jeder Zeit dem Reichsgesetz den Vorzug vor dem Landesgesetz zusichert, aber zugleich in dem
4 G. Waitz, Grundzüge der Politik. Kiel 1862. S. 44 f.: „Beide, die Bundesgewalt und die Gewalt der Einzelstaten müssen in ihrer Sphäre selbständig (souverain) sein; diese darf ihre Gewalt nicht von jener empfangen, jene nicht auf Uebertragung dieser beruhen.“ S. 153: „Wesen des Bundesstats.“
5 Vgl. Rüttimann über die für Realisirung des Bundesrechts zu Gebote stehenden Organe und Zwangsmittel der schweizerischen Eidge- nossenschaft. Zürich 1862.
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Vierundzwanzigstes Capitel. V. Zusammengesetzte Statsformen.
Preuszen, Bayern, Sachsen u. s. f.) und der Gesammtstat ist
eben so frei in seinen Bewegungen und zwar ebenso ausge-
stattet mit Organen wie ein Einheitsstat. Die Landesstaten
aber sind keine Vasallen des Gesammtstates, sondern inner-
halb ihres Bereiches wieder selbständig wie Einheitsstaten. 4
Die Möglichkeit eines solchen Nebeneinanderseins zweier
Staten auf demselben Gebiete wird dadurch hergestellt, dasz
einerseits die Competenzen der beiderlei Staten scharf aus-
geschieden werden und für friedliche Erledigung allfälliger
Conflicte gesorgt ist, und dasz andererseits die beiderlei
Behörden und Repräsentativkörper möglichst von einander
getrennt und wechselseitig unabhängig erhalten wer-
den. Am vollständigsten ist diese Scheidung auch der Per-
sonen (Aemter) in dem nordamerikanischen Bundesstate
durchgeführt worden, die Ausscheidung der Competenzen
aber auch in der schweizerischen Bundesverfassung mit be-
sonderer Sorgfalt geregelt worden. 5 In dem deutschen Bun-
desreiche sind die Organe der Bundesregierung noch mit den
Organen der einzelstatlichen Regierungen eng verbunden, so
jedoch, dasz in dem König von Preuszen als deutscher Kaiser
die Eigenschaft des Einen Bundeshaupts sichtbar wird, und
dasz der Reichstag von den Kammern der Einzelstaten ganz
getrennt ist. Die Competenzen des Reiches aber sind keines-
wegs scharf geschieden von denen der Landesstaten; sie sind
im Gegentheil mit Absicht flüssig erhalten; aber es ist durch
die Reichsverfassung, welche jeder Zeit dem Reichsgesetz den
Vorzug vor dem Landesgesetz zusichert, aber zugleich in dem
4 G.
Waitz, Grundzüge der Politik. Kiel 1862. S. 44 f.: „Beide,
die Bundesgewalt und die Gewalt der Einzelstaten müssen in ihrer
Sphäre selbständig (souverain) sein; diese darf ihre Gewalt nicht von
jener empfangen, jene nicht auf Uebertragung dieser beruhen.“ S. 153:
„Wesen des Bundesstats.“
5 Vgl. Rüttimann
über die für Realisirung des Bundesrechts zu
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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 559. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/577>, abgerufen am 07.05.2024.
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