Zweiundzwanzigstes Cap. IV. Demokr. Statsformen. B. Repräsentat. Demokr.
a) in der Abstimmung über Verfassungsgesetze. In der Schweiz ist der Grundsatz, dasz Verfassungsgesetze der Zustimmung der Mehrheit aller Bürger bedürfen, seit dem Jahr 1830 ziemlich allgemein anerkannt, wobei übrigens nach der richtigen Rechnung die Bürger, welche sich der Abstimmung enthalten, nicht gezählt werden. 2 In den nordamerikani- schen Republiken dagegen kommt anstatt der Abstimmung durch die ganze Bürgerschaft, auch die Abstimmung durch eine zu diesem Behuf gewählte, zahlreiche Repräsentation derselben (Convention, Verfassungsrath) vor;
b) zuweilen auch in der Abstimmung über andere Ge- setze, entweder in der positiven Form der Sanction (Re- ferendum), dasz dieselben erst durch die Annahme der Bürger- schaft Gültigkeit erlangen, oder in der negativen Form des Veto, so dasz der Bürgerschaft die Befugnisz zusteht, den von dem repräsentativen Körper beschlossenen Gesetzen durch ihre Einsprache die Gültigkeit zu versagen. Wo die letztere Form gilt, da werden nur die verneinenden Bürger gezählt, und ist das Gesetz verworfen, wenn ihre Zahl die Hälfte der Gesammtbürgerschaft übersteigt. Nach der ersteren Form werden nur die abstimmenden Bürger gerechnet, und die Mehrheit derselben bestimmt die Annahme oder die Ver- werfung. Beide Institute sind der reinen Demokratie entlehnt. Beide haben daher auch für die den Massen weniger ver- ständlichen Bedürfnisse einer höhern Cultur ihre Gefahren, und geben leicht zu Agitationen der Menge Veranlassung. Sie werden in einzelnen Repräsentativdemokratien der Schweiz
2 Verfassung von Zürich §: 93: "Wird der Vorschlag (einer Ver- fassungsänderung nach wiederholter Berathung durch den groszen Rath) angenommen, so ist das dieszfällige Gesetz noch der gesammten Bürger- schaft des Cantons zur Annahme oder Verwerfung vorzulegen." Schwei- zer. Bundesverf. von 1848 und 1874. Art. 6: "Der Bund übernimmt die Gewährleistung (der Cantonalverfassungen), insofern sie -- c) vom Volke angenommen worden sind und revidirt werden können, wenn die absolute Mehrheit der Bürger es verlangt."
Bluntschli, allgemeine Statslehre. 35
Zweiundzwanzigstes Cap. IV. Demokr. Statsformen. B. Repräsentat. Demokr.
a) in der Abstimmung über Verfassungsgesetze. In der Schweiz ist der Grundsatz, dasz Verfassungsgesetze der Zustimmung der Mehrheit aller Bürger bedürfen, seit dem Jahr 1830 ziemlich allgemein anerkannt, wobei übrigens nach der richtigen Rechnung die Bürger, welche sich der Abstimmung enthalten, nicht gezählt werden. 2 In den nordamerikani- schen Republiken dagegen kommt anstatt der Abstimmung durch die ganze Bürgerschaft, auch die Abstimmung durch eine zu diesem Behuf gewählte, zahlreiche Repräsentation derselben (Convention, Verfassungsrath) vor;
b) zuweilen auch in der Abstimmung über andere Ge- setze, entweder in der positiven Form der Sanction (Re- ferendum), dasz dieselben erst durch die Annahme der Bürger- schaft Gültigkeit erlangen, oder in der negativen Form des Veto, so dasz der Bürgerschaft die Befugnisz zusteht, den von dem repräsentativen Körper beschlossenen Gesetzen durch ihre Einsprache die Gültigkeit zu versagen. Wo die letztere Form gilt, da werden nur die verneinenden Bürger gezählt, und ist das Gesetz verworfen, wenn ihre Zahl die Hälfte der Gesammtbürgerschaft übersteigt. Nach der ersteren Form werden nur die abstimmenden Bürger gerechnet, und die Mehrheit derselben bestimmt die Annahme oder die Ver- werfung. Beide Institute sind der reinen Demokratie entlehnt. Beide haben daher auch für die den Massen weniger ver- ständlichen Bedürfnisse einer höhern Cultur ihre Gefahren, und geben leicht zu Agitationen der Menge Veranlassung. Sie werden in einzelnen Repräsentativdemokratien der Schweiz
2 Verfassung von Zürich §: 93: „Wird der Vorschlag (einer Ver- fassungsänderung nach wiederholter Berathung durch den groszen Rath) angenommen, so ist das dieszfällige Gesetz noch der gesammten Bürger- schaft des Cantons zur Annahme oder Verwerfung vorzulegen.“ Schwei- zer. Bundesverf. von 1848 und 1874. Art. 6: „Der Bund übernimmt die Gewährleistung (der Cantonalverfassungen), insofern sie — c) vom Volke angenommen worden sind und revidirt werden können, wenn die absolute Mehrheit der Bürger es verlangt.“
Bluntschli, allgemeine Statslehre. 35
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Zweiundzwanzigstes Cap. IV. Demokr. Statsformen. B. Repräsentat. Demokr.
a) in der Abstimmung über Verfassungsgesetze. In
der Schweiz ist der Grundsatz, dasz Verfassungsgesetze der
Zustimmung der Mehrheit aller Bürger bedürfen, seit dem Jahr
1830 ziemlich allgemein anerkannt, wobei übrigens nach der
richtigen Rechnung die Bürger, welche sich der Abstimmung
enthalten, nicht gezählt werden. 2 In den nordamerikani-
schen Republiken dagegen kommt anstatt der Abstimmung
durch die ganze Bürgerschaft, auch die Abstimmung durch
eine zu diesem Behuf gewählte, zahlreiche Repräsentation
derselben (Convention, Verfassungsrath) vor;
b) zuweilen auch in der Abstimmung über andere Ge-
setze, entweder in der positiven Form der Sanction (Re-
ferendum), dasz dieselben erst durch die Annahme der Bürger-
schaft Gültigkeit erlangen, oder in der negativen Form des
Veto, so dasz der Bürgerschaft die Befugnisz zusteht, den
von dem repräsentativen Körper beschlossenen Gesetzen durch
ihre Einsprache die Gültigkeit zu versagen. Wo die letztere
Form gilt, da werden nur die verneinenden Bürger gezählt,
und ist das Gesetz verworfen, wenn ihre Zahl die Hälfte der
Gesammtbürgerschaft übersteigt. Nach der ersteren Form
werden nur die abstimmenden Bürger gerechnet, und die
Mehrheit derselben bestimmt die Annahme oder die Ver-
werfung. Beide Institute sind der reinen Demokratie entlehnt.
Beide haben daher auch für die den Massen weniger ver-
ständlichen Bedürfnisse einer höhern Cultur ihre Gefahren,
und geben leicht zu Agitationen der Menge Veranlassung.
Sie werden in einzelnen Repräsentativdemokratien der Schweiz
2 Verfassung von Zürich §: 93: „Wird der Vorschlag (einer Ver-
fassungsänderung nach wiederholter Berathung durch den groszen Rath)
angenommen, so ist das dieszfällige Gesetz noch der gesammten Bürger-
schaft des Cantons zur Annahme oder Verwerfung vorzulegen.“ Schwei-
zer. Bundesverf. von 1848 und 1874. Art. 6: „Der Bund übernimmt die
Gewährleistung (der Cantonalverfassungen), insofern sie — c) vom Volke
angenommen worden sind und revidirt werden können, wenn die absolute
Mehrheit der Bürger es verlangt.“
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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 545. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/563>, abgerufen am 25.11.2024.
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