Cantonen wurde nun doch die Repräsentativdemokratie ein- heimisch, und blieb die Grundform dieser Republiken, trotz des theilweisen Rückfalls in aristokratische Vorrechte, welche in dem Zeitalter der Restauration, nach 1814 eintraten. Mit den Reformbewegungen seit 1830 gelangte die neue Form wieder zu reinerer Darstellung. Im Jahr 1848 wurde sie nun auch auf die Bundesverfassung übertragen.
4. Die moderne Demokratie ist eine wesentlich an- dere als die alt-hellenische. Der Perser Otanes (bei Herodot III. 82) zählte fünf Merkmale der antiken Demokratie auf: 1) die Rechtsgleichheit für Alle (isonomia), 2) die Ver- werfung jeder Willkürgewalt, wie die orientalischen Herr- scher sie zu üben pflegten, 3) die Besetzung der Aemter durch das Loos, 4) die Verantwortlichkeit der Aemter, 5) die gemeinsame Berathung und Beschluszfassung in der Volksversammlung. Drei von diesen Merkmalen sind heute in dem modernen Statsrecht überhaupt anerkannt, in der constitutionellen Monarchie nicht minder als in der Re- publik. Die beiden specifischen Merkmale der antiken De- mokratie, die Loosämter und die Volksversammungen, werden von der neuen Republik verworfen. So ist denn keines dieser Merkmale heute noch bezeichnend.
Die moderne Republik ist, verglichen mit der antiken Demokratie, in welcher alle Bürger gleichmäszig an der Volks- herrschaft Theil nehmen, eine durch die Wahl der Besten als Repräsentanten des Volks, d. h. durch eine aristo- kratische Unterscheidung veredelte Demokratie. Das Recht der Herrschaft wird auch in ihr der Gesammtbürgerschaft, dem Volke, zugeschrieben, aber die Ausübung dieser Herr- schaft wird den vorzüglichen Männern, als Repräsentanten des Volks anvertraut.
Die unmittelbare Theilnahme der Bürger an den öffentlichen Angelegenheiten zeigt sich hauptsächlich noch in folgenden Beziehungen:
Sechstes Buch. Die Statsformen.
Cantonen wurde nun doch die Repräsentativdemokratie ein- heimisch, und blieb die Grundform dieser Republiken, trotz des theilweisen Rückfalls in aristokratische Vorrechte, welche in dem Zeitalter der Restauration, nach 1814 eintraten. Mit den Reformbewegungen seit 1830 gelangte die neue Form wieder zu reinerer Darstellung. Im Jahr 1848 wurde sie nun auch auf die Bundesverfassung übertragen.
4. Die moderne Demokratie ist eine wesentlich an- dere als die alt-hellenische. Der Perser Otanes (bei Herodot III. 82) zählte fünf Merkmale der antiken Demokratie auf: 1) die Rechtsgleichheit für Alle (ἰσονομία), 2) die Ver- werfung jeder Willkürgewalt, wie die orientalischen Herr- scher sie zu üben pflegten, 3) die Besetzung der Aemter durch das Loos, 4) die Verantwortlichkeit der Aemter, 5) die gemeinsame Berathung und Beschluszfassung in der Volksversammlung. Drei von diesen Merkmalen sind heute in dem modernen Statsrecht überhaupt anerkannt, in der constitutionellen Monarchie nicht minder als in der Re- publik. Die beiden specifischen Merkmale der antiken De- mokratie, die Loosämter und die Volksversammungen, werden von der neuen Republik verworfen. So ist denn keines dieser Merkmale heute noch bezeichnend.
Die moderne Republik ist, verglichen mit der antiken Demokratie, in welcher alle Bürger gleichmäszig an der Volks- herrschaft Theil nehmen, eine durch die Wahl der Besten als Repräsentanten des Volks, d. h. durch eine aristo- kratische Unterscheidung veredelte Demokratie. Das Recht der Herrschaft wird auch in ihr der Gesammtbürgerschaft, dem Volke, zugeschrieben, aber die Ausübung dieser Herr- schaft wird den vorzüglichen Männern, als Repräsentanten des Volks anvertraut.
Die unmittelbare Theilnahme der Bürger an den öffentlichen Angelegenheiten zeigt sich hauptsächlich noch in folgenden Beziehungen:
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0562"n="544"/><fwplace="top"type="header">Sechstes Buch. Die Statsformen.</fw><lb/>
Cantonen wurde nun doch die Repräsentativdemokratie ein-<lb/>
heimisch, und blieb die Grundform dieser Republiken, trotz<lb/>
des theilweisen Rückfalls in aristokratische Vorrechte, welche<lb/>
in dem Zeitalter der Restauration, nach 1814 eintraten. Mit<lb/>
den Reformbewegungen seit 1830 gelangte die neue Form<lb/>
wieder zu reinerer Darstellung. Im Jahr 1848 wurde sie nun<lb/>
auch auf die Bundesverfassung übertragen.</p><lb/><p>4. Die <hirendition="#g">moderne Demokratie</hi> ist eine wesentlich an-<lb/>
dere als die alt-hellenische. Der Perser Otanes (bei Herodot<lb/>
III. 82) zählte fünf Merkmale der antiken Demokratie auf:<lb/>
1) die <hirendition="#g">Rechtsgleichheit</hi> für Alle (ἰσονομία), 2) die Ver-<lb/>
werfung jeder <hirendition="#g">Willkürgewalt</hi>, wie die orientalischen Herr-<lb/>
scher sie zu üben pflegten, 3) die Besetzung der Aemter<lb/>
durch das <hirendition="#g">Loos</hi>, 4) die <hirendition="#g">Verantwortlichkeit</hi> der Aemter,<lb/>
5) die gemeinsame Berathung und Beschluszfassung in der<lb/><hirendition="#g">Volksversammlung</hi>. Drei von diesen Merkmalen sind<lb/>
heute in dem modernen Statsrecht überhaupt anerkannt, in<lb/>
der constitutionellen Monarchie nicht minder als in der Re-<lb/>
publik. Die beiden specifischen Merkmale der antiken De-<lb/>
mokratie, die Loosämter und die Volksversammungen, werden<lb/>
von der neuen Republik verworfen. So ist denn keines dieser<lb/>
Merkmale heute noch bezeichnend.</p><lb/><p>Die moderne Republik ist, verglichen mit der antiken<lb/>
Demokratie, in welcher alle Bürger gleichmäszig an der Volks-<lb/>
herrschaft Theil nehmen, eine durch die <hirendition="#g">Wahl</hi> der Besten<lb/>
als <hirendition="#g">Repräsentanten des Volks</hi>, d. h. durch eine aristo-<lb/>
kratische Unterscheidung veredelte Demokratie. Das <hirendition="#g">Recht</hi><lb/>
der <hirendition="#g">Herrschaft</hi> wird auch in ihr der Gesammtbürgerschaft,<lb/>
dem <hirendition="#g">Volke</hi>, zugeschrieben, aber die <hirendition="#g">Ausübung</hi> dieser Herr-<lb/>
schaft wird den vorzüglichen Männern, als <hirendition="#g">Repräsentanten</hi><lb/>
des Volks anvertraut.</p><lb/><p>Die <hirendition="#g">unmittelbare</hi> Theilnahme der <hirendition="#g">Bürger</hi> an den<lb/>
öffentlichen Angelegenheiten zeigt sich hauptsächlich noch in<lb/>
folgenden Beziehungen:</p><lb/></div></div></body></text></TEI>
[544/0562]
Sechstes Buch. Die Statsformen.
Cantonen wurde nun doch die Repräsentativdemokratie ein-
heimisch, und blieb die Grundform dieser Republiken, trotz
des theilweisen Rückfalls in aristokratische Vorrechte, welche
in dem Zeitalter der Restauration, nach 1814 eintraten. Mit
den Reformbewegungen seit 1830 gelangte die neue Form
wieder zu reinerer Darstellung. Im Jahr 1848 wurde sie nun
auch auf die Bundesverfassung übertragen.
4. Die moderne Demokratie ist eine wesentlich an-
dere als die alt-hellenische. Der Perser Otanes (bei Herodot
III. 82) zählte fünf Merkmale der antiken Demokratie auf:
1) die Rechtsgleichheit für Alle (ἰσονομία), 2) die Ver-
werfung jeder Willkürgewalt, wie die orientalischen Herr-
scher sie zu üben pflegten, 3) die Besetzung der Aemter
durch das Loos, 4) die Verantwortlichkeit der Aemter,
5) die gemeinsame Berathung und Beschluszfassung in der
Volksversammlung. Drei von diesen Merkmalen sind
heute in dem modernen Statsrecht überhaupt anerkannt, in
der constitutionellen Monarchie nicht minder als in der Re-
publik. Die beiden specifischen Merkmale der antiken De-
mokratie, die Loosämter und die Volksversammungen, werden
von der neuen Republik verworfen. So ist denn keines dieser
Merkmale heute noch bezeichnend.
Die moderne Republik ist, verglichen mit der antiken
Demokratie, in welcher alle Bürger gleichmäszig an der Volks-
herrschaft Theil nehmen, eine durch die Wahl der Besten
als Repräsentanten des Volks, d. h. durch eine aristo-
kratische Unterscheidung veredelte Demokratie. Das Recht
der Herrschaft wird auch in ihr der Gesammtbürgerschaft,
dem Volke, zugeschrieben, aber die Ausübung dieser Herr-
schaft wird den vorzüglichen Männern, als Repräsentanten
des Volks anvertraut.
Die unmittelbare Theilnahme der Bürger an den
öffentlichen Angelegenheiten zeigt sich hauptsächlich noch in
folgenden Beziehungen:
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 544. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/562>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.