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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Sechstes Buch. Die Statsformen.
zu machen, welche dieselbe der constitutionellen Monarchie
der andern Staten annäherten. Ein Senatusconsult vom 6. Sep-
tember 1869 verlieh beiden Häusern das Recht der Initiative,
gestattete den Ministern, Mitglieder derselben zu werden und
erklärte die Minister auf Beschlusz des Senats für verant-
wortlich. Die so umgebildete neue Verfassung wurde der Ab-
stimmung der Bürger vorgelegt und durch das Plebiscit vom
20. April 1870 mit 7,350,142 bejahenden Stimmen wider
1,538,825 verneinende Stimmen gutgeheiszen.

Indeszen vermochten diese Zugeständnisse die Verfassung
in der Krisis nicht zu retten, welche durch die Niederlage
der Napoleonischen Politik und der französischen Heere im
Kampf mit dem deutschen Volke und Heere herbeigeführt
wurde. Eine neue Pariser Revolution vom 4. September 1870
erklärte die kaiserliche Monarchie für abgeschafft und ver-
suchte es von neuem mit der Republik.

III. Romanische Länder. Die Umgestaltungen, welche
der französische Stat seit der Revolution erlebte, hatten auch
auszerhalb Frankreichs die wichtigsten Veränderungen zur
Folge. Vorerst in den romanischen Ländern. Nach Art der
französischen Republik wurden in Italien ähnliche Republiken
unter dem erobernden Schutz der französischen Waffen ge-
gründet; später von Napoleon neue abhängige Monarchien
nach dem Vorbilde des französischen Reiches in Italien und
Spanien eingeführt. Es schien, als ob die moderne Gestal-
tung Europa's von Paris aus ins Dasein gerufen werden solle.
Indessen zog auch hier der Untergang der Napoleonischen
Weltherrschaft den Fall dieser ephemeren Statenbildung
nach sich.

Wichtiger, wenn auch zunächst wieder nur von momen-
tanem Erfolge, waren für die Ausbildung des constitutionellen
Systems die beiden Verfassungen, welche im Jahre 1812 in
Sicilien und in Spanien verfaszt und proclamirt wurden.

1. Die Verfassung Siciliens -- vorzüglich das Werk

Sechstes Buch. Die Statsformen.
zu machen, welche dieselbe der constitutionellen Monarchie
der andern Staten annäherten. Ein Senatusconsult vom 6. Sep-
tember 1869 verlieh beiden Häusern das Recht der Initiative,
gestattete den Ministern, Mitglieder derselben zu werden und
erklärte die Minister auf Beschlusz des Senats für verant-
wortlich. Die so umgebildete neue Verfassung wurde der Ab-
stimmung der Bürger vorgelegt und durch das Plebiscit vom
20. April 1870 mit 7,350,142 bejahenden Stimmen wider
1,538,825 verneinende Stimmen gutgeheiszen.

Indeszen vermochten diese Zugeständnisse die Verfassung
in der Krisis nicht zu retten, welche durch die Niederlage
der Napoleonischen Politik und der französischen Heere im
Kampf mit dem deutschen Volke und Heere herbeigeführt
wurde. Eine neue Pariser Revolution vom 4. September 1870
erklärte die kaiserliche Monarchie für abgeschafft und ver-
suchte es von neuem mit der Republik.

III. Romanische Länder. Die Umgestaltungen, welche
der französische Stat seit der Revolution erlebte, hatten auch
auszerhalb Frankreichs die wichtigsten Veränderungen zur
Folge. Vorerst in den romanischen Ländern. Nach Art der
französischen Republik wurden in Italien ähnliche Republiken
unter dem erobernden Schutz der französischen Waffen ge-
gründet; später von Napoleon neue abhängige Monarchien
nach dem Vorbilde des französischen Reiches in Italien und
Spanien eingeführt. Es schien, als ob die moderne Gestal-
tung Europa's von Paris aus ins Dasein gerufen werden solle.
Indessen zog auch hier der Untergang der Napoleonischen
Weltherrschaft den Fall dieser ephemeren Statenbildung
nach sich.

Wichtiger, wenn auch zunächst wieder nur von momen-
tanem Erfolge, waren für die Ausbildung des constitutionellen
Systems die beiden Verfassungen, welche im Jahre 1812 in
Sicilien und in Spanien verfaszt und proclamirt wurden.

1. Die Verfassung Siciliens — vorzüglich das Werk

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[460/0478] Sechstes Buch. Die Statsformen. zu machen, welche dieselbe der constitutionellen Monarchie der andern Staten annäherten. Ein Senatusconsult vom 6. Sep- tember 1869 verlieh beiden Häusern das Recht der Initiative, gestattete den Ministern, Mitglieder derselben zu werden und erklärte die Minister auf Beschlusz des Senats für verant- wortlich. Die so umgebildete neue Verfassung wurde der Ab- stimmung der Bürger vorgelegt und durch das Plebiscit vom 20. April 1870 mit 7,350,142 bejahenden Stimmen wider 1,538,825 verneinende Stimmen gutgeheiszen. Indeszen vermochten diese Zugeständnisse die Verfassung in der Krisis nicht zu retten, welche durch die Niederlage der Napoleonischen Politik und der französischen Heere im Kampf mit dem deutschen Volke und Heere herbeigeführt wurde. Eine neue Pariser Revolution vom 4. September 1870 erklärte die kaiserliche Monarchie für abgeschafft und ver- suchte es von neuem mit der Republik. III. Romanische Länder. Die Umgestaltungen, welche der französische Stat seit der Revolution erlebte, hatten auch auszerhalb Frankreichs die wichtigsten Veränderungen zur Folge. Vorerst in den romanischen Ländern. Nach Art der französischen Republik wurden in Italien ähnliche Republiken unter dem erobernden Schutz der französischen Waffen ge- gründet; später von Napoleon neue abhängige Monarchien nach dem Vorbilde des französischen Reiches in Italien und Spanien eingeführt. Es schien, als ob die moderne Gestal- tung Europa's von Paris aus ins Dasein gerufen werden solle. Indessen zog auch hier der Untergang der Napoleonischen Weltherrschaft den Fall dieser ephemeren Statenbildung nach sich. Wichtiger, wenn auch zunächst wieder nur von momen- tanem Erfolge, waren für die Ausbildung des constitutionellen Systems die beiden Verfassungen, welche im Jahre 1812 in Sicilien und in Spanien verfaszt und proclamirt wurden. 1. Die Verfassung Siciliens — vorzüglich das Werk

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 460. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/478>, abgerufen am 02.05.2024.