Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

Bild:
<< vorherige Seite

Vierz. Cap. II. Mon. Statsformen. G. Const. Monarchie. 1. Entstehung etc.
der Kaiser beliebig entlassen. Es gibt nur zwei grosze po-
litische Kräfte in dieser Verfassung: die Volksmehrheit
und der Kaiser. Was in der Mitte ist zwischen beiden, ist
sehr abhängig und hat nur geringe Selbständigkeit. Die Mi-
nister sind nur dem Statshaupte verantwortlich, aber es gibt
unter ihnen Redeminister, welche die Regierung vor der Kam-
mer vertheidigen und daher eine gefährliche Autorität sowohl
der Volksvertretung als dem Statshaupt gegenüber erlangen; 11
der Antheil des gesetzgebenden Körpers an der Gesetzgebung
hat eher einen negativen als einen positiven Charakter; er
kann ein schädliches oder ungerechtes Gesetz verhindern,
nicht verbessern. Er hat keine Initiative und nur in den Com-
missionen die Möglichkeit mit dem Statsrathe über Aenderung
zu verhandeln. Der Senat ist zwar seiner Bestimmung nach eine
die Volksfreiheiten schützende und die Verfassung wahrende,
ausnahmsweise auch zu Reformen den Anstosz gebende, ihrer
Natur nach eine aristokratische Macht, aber die Senatoren
sind durch die Wahl des Kaisers auf ihre hohe Stellung ge-
rufen und durch die französischen Parteiverhältnisse wie durch
ihre socialen Beziehungen an die Macht des Kaisers, als an
ihren Grund und ihre Stütze angewiesen. Die Harmonie der
Massen und des Kaisers wird daher mit groszer Sorgfalt vor
jeder Dissonanz zu bewahren gesucht, und daher auch der
Opposition in den Behörden und in der Presse nur ein sehr
beschränkter Spielraum verstattet. 12

Diese autokratische Verfassung genügte indessen den
wieder geweckten Begehren nach mehr Volksfreiheit nicht.
Der Kaiser Napoleon III. sah sich genöthigt, Zugeständnisse

11 Vgl. de Parieu Pol. 204., welcher an Rouher erinnert, ohne
ihn zu nennen.
12 In den Reveries
politiques des Prinzen Louis Napoleon, die schon
im Jahre 1832 geschrieben wurden, findet sich ein Entwurf einer fran-
zösischen Verfassung, welcher sich zu der Verfassung von 1852, wie die
Blüthe der Jugendideale zu der reifen Frucht des Mannesalters verhält.
Kaiserliches Decret vom 19. Jan. 1867.

Vierz. Cap. II. Mon. Statsformen. G. Const. Monarchie. 1. Entstehung etc.
der Kaiser beliebig entlassen. Es gibt nur zwei grosze po-
litische Kräfte in dieser Verfassung: die Volksmehrheit
und der Kaiser. Was in der Mitte ist zwischen beiden, ist
sehr abhängig und hat nur geringe Selbständigkeit. Die Mi-
nister sind nur dem Statshaupte verantwortlich, aber es gibt
unter ihnen Redeminister, welche die Regierung vor der Kam-
mer vertheidigen und daher eine gefährliche Autorität sowohl
der Volksvertretung als dem Statshaupt gegenüber erlangen; 11
der Antheil des gesetzgebenden Körpers an der Gesetzgebung
hat eher einen negativen als einen positiven Charakter; er
kann ein schädliches oder ungerechtes Gesetz verhindern,
nicht verbessern. Er hat keine Initiative und nur in den Com-
missionen die Möglichkeit mit dem Statsrathe über Aenderung
zu verhandeln. Der Senat ist zwar seiner Bestimmung nach eine
die Volksfreiheiten schützende und die Verfassung wahrende,
ausnahmsweise auch zu Reformen den Anstosz gebende, ihrer
Natur nach eine aristokratische Macht, aber die Senatoren
sind durch die Wahl des Kaisers auf ihre hohe Stellung ge-
rufen und durch die französischen Parteiverhältnisse wie durch
ihre socialen Beziehungen an die Macht des Kaisers, als an
ihren Grund und ihre Stütze angewiesen. Die Harmonie der
Massen und des Kaisers wird daher mit groszer Sorgfalt vor
jeder Dissonanz zu bewahren gesucht, und daher auch der
Opposition in den Behörden und in der Presse nur ein sehr
beschränkter Spielraum verstattet. 12

Diese autokratische Verfassung genügte indessen den
wieder geweckten Begehren nach mehr Volksfreiheit nicht.
Der Kaiser Napoleon III. sah sich genöthigt, Zugeständnisse

11 Vgl. de Parieu Pol. 204., welcher an Rouher erinnert, ohne
ihn zu nennen.
12 In den Rêveries
politiques des Prinzen Louis Napoleon, die schon
im Jahre 1832 geschrieben wurden, findet sich ein Entwurf einer fran-
zösischen Verfassung, welcher sich zu der Verfassung von 1852, wie die
Blüthe der Jugendideale zu der reifen Frucht des Mannesalters verhält.
Kaiserliches Decret vom 19. Jan. 1867.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0477" n="459"/><fw place="top" type="header">Vierz. Cap. II. Mon. Statsformen. G. Const. Monarchie. 1. Entstehung etc.</fw><lb/>
der Kaiser beliebig entlassen. Es gibt nur zwei grosze po-<lb/>
litische Kräfte in dieser Verfassung: die <hi rendition="#g">Volksmehrheit</hi><lb/>
und der <hi rendition="#g">Kaiser</hi>. Was in der Mitte ist zwischen beiden, ist<lb/>
sehr abhängig und hat nur geringe Selbständigkeit. Die Mi-<lb/>
nister sind nur dem Statshaupte verantwortlich, aber es gibt<lb/>
unter ihnen Redeminister, welche die Regierung vor der Kam-<lb/>
mer vertheidigen und daher eine gefährliche Autorität sowohl<lb/>
der Volksvertretung als dem Statshaupt gegenüber erlangen; <note place="foot" n="11">Vgl. <hi rendition="#g">de Parieu</hi> Pol. 204., welcher an <hi rendition="#g">Rouher</hi> erinnert, ohne<lb/>
ihn zu nennen.</note><lb/>
der Antheil des gesetzgebenden Körpers an der Gesetzgebung<lb/>
hat eher einen negativen als einen positiven Charakter; er<lb/>
kann ein schädliches oder ungerechtes Gesetz verhindern,<lb/>
nicht verbessern. Er hat keine Initiative und nur in den Com-<lb/>
missionen die Möglichkeit mit dem Statsrathe über Aenderung<lb/>
zu verhandeln. Der Senat ist zwar seiner Bestimmung nach eine<lb/>
die Volksfreiheiten schützende und die Verfassung wahrende,<lb/>
ausnahmsweise auch zu Reformen den Anstosz gebende, ihrer<lb/>
Natur nach eine <hi rendition="#g">aristokratische</hi> Macht, aber die Senatoren<lb/>
sind durch die Wahl des Kaisers auf ihre hohe Stellung ge-<lb/>
rufen und durch die französischen Parteiverhältnisse wie durch<lb/>
ihre socialen Beziehungen an die Macht des Kaisers, als an<lb/>
ihren Grund und ihre Stütze angewiesen. Die Harmonie der<lb/>
Massen und des Kaisers wird daher mit groszer Sorgfalt vor<lb/>
jeder Dissonanz zu bewahren gesucht, und daher auch der<lb/>
Opposition in den Behörden und in der Presse nur ein sehr<lb/>
beschränkter Spielraum verstattet. <note place="foot" n="12">In den Rêveries<lb/>
politiques des Prinzen Louis Napoleon, die schon<lb/>
im Jahre 1832 geschrieben wurden, findet sich ein Entwurf einer fran-<lb/>
zösischen Verfassung, welcher sich zu der Verfassung von 1852, wie die<lb/>
Blüthe der Jugendideale zu der reifen Frucht des Mannesalters verhält.<lb/><hi rendition="#g">Kaiserliches Decret</hi> vom 19. Jan. 1867.</note></p><lb/>
          <p>Diese autokratische Verfassung genügte indessen den<lb/>
wieder geweckten Begehren nach mehr Volksfreiheit nicht.<lb/>
Der Kaiser Napoleon III. sah sich genöthigt, Zugeständnisse<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[459/0477] Vierz. Cap. II. Mon. Statsformen. G. Const. Monarchie. 1. Entstehung etc. der Kaiser beliebig entlassen. Es gibt nur zwei grosze po- litische Kräfte in dieser Verfassung: die Volksmehrheit und der Kaiser. Was in der Mitte ist zwischen beiden, ist sehr abhängig und hat nur geringe Selbständigkeit. Die Mi- nister sind nur dem Statshaupte verantwortlich, aber es gibt unter ihnen Redeminister, welche die Regierung vor der Kam- mer vertheidigen und daher eine gefährliche Autorität sowohl der Volksvertretung als dem Statshaupt gegenüber erlangen; 11 der Antheil des gesetzgebenden Körpers an der Gesetzgebung hat eher einen negativen als einen positiven Charakter; er kann ein schädliches oder ungerechtes Gesetz verhindern, nicht verbessern. Er hat keine Initiative und nur in den Com- missionen die Möglichkeit mit dem Statsrathe über Aenderung zu verhandeln. Der Senat ist zwar seiner Bestimmung nach eine die Volksfreiheiten schützende und die Verfassung wahrende, ausnahmsweise auch zu Reformen den Anstosz gebende, ihrer Natur nach eine aristokratische Macht, aber die Senatoren sind durch die Wahl des Kaisers auf ihre hohe Stellung ge- rufen und durch die französischen Parteiverhältnisse wie durch ihre socialen Beziehungen an die Macht des Kaisers, als an ihren Grund und ihre Stütze angewiesen. Die Harmonie der Massen und des Kaisers wird daher mit groszer Sorgfalt vor jeder Dissonanz zu bewahren gesucht, und daher auch der Opposition in den Behörden und in der Presse nur ein sehr beschränkter Spielraum verstattet. 12 Diese autokratische Verfassung genügte indessen den wieder geweckten Begehren nach mehr Volksfreiheit nicht. Der Kaiser Napoleon III. sah sich genöthigt, Zugeständnisse 11 Vgl. de Parieu Pol. 204., welcher an Rouher erinnert, ohne ihn zu nennen. 12 In den Rêveries politiques des Prinzen Louis Napoleon, die schon im Jahre 1832 geschrieben wurden, findet sich ein Entwurf einer fran- zösischen Verfassung, welcher sich zu der Verfassung von 1852, wie die Blüthe der Jugendideale zu der reifen Frucht des Mannesalters verhält. Kaiserliches Decret vom 19. Jan. 1867.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/477
Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 459. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/477>, abgerufen am 24.11.2024.