Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

Bild:
<< vorherige Seite

Sechstes Buch. Die Statsformen.
der sich Alles beugen muszte. Sie war die Concentration der
römischen Weltherrschaft, das imperium mundi in Einem
Individuum
. Das ideale Motiv, welchem freilich die Rea-
lität nur selten entsprach, war die öffentliche Wohlfahrt,
Salus publica, das grosze Statsprincip der Römer, welches sie
in den Statsangelegenheiten wenigstens in späterer Zeit mehr
anriefen als das Recht, Jus, so sehr sie im Privatrecht ge-
rade dieses zu Ehren brachten und ausbildeten.

Die römische Kaisergeschichte, wie sie diese absolute
Statsform im groszartigsten Maszstabe zur Erscheinung ge-
bracht, hat zugleich der Nachwelt die Warnung hinterlassen,
dasz ein solches Uebermasz von Macht weder zum Besten
dessen dient, der sie besitzt, noch der Nation, für welche sie
geübt werden soll. 11

In der Zeit des untergehenden und innerlich verdorbe-
nen Weltreiches mochte übrigens dieselbe nöthig und in dem
Schicksale hinreichend begründet sein. Die römische Aristo-
kratie war theils entartet, theils nicht stark genug, den un-
ermeszlichen Statskörper zu leiten. Von Zeit zu Zeit noch
ohnmächtige Versuche wagend, ihre frühere Herrschaft her-
zustellen, ergab sie sich doch in der Regel der zwingenden
Gewalt der neuen Verhältnisse. 12 Die Masse des Volkes, ohne
Anspruch auf Herrschaft, der Waffen entwöhnt, den Werken
und Genüssen des Friedens ergeben, zog sogar die Herrschaft
des Einen Kaisers dem Regimente des Senates vor, und freute
sich trotz der eigenen politischen Ohnmacht über die De-

11 Man vergleiche nur die folgenden Worte des Kaisers Tiberius,
welche ursprünglich vielleicht aufrichtig gemeint waren, mit seinen Tha-
ten. Sueton. Tiber. 29: "Dixi et nunc et saepe alias, P. C., bonum et
salutarem Principem, quem vos tanta et tam libera potestate exstruxistis,
senatui servire debere et universis civibus saepe et plerumque etiam sin-
gulis
: neque id dixisse me poenitet."
12 Wie wenig damals die frühere republikanische Verfassung bei den
untern Volksclassen zu Rom populär war, zeigen die Vorgänge bei der
Erhebung des Kaisers Claudius.

Sechstes Buch. Die Statsformen.
der sich Alles beugen muszte. Sie war die Concentration der
römischen Weltherrschaft, das imperium mundi in Einem
Individuum
. Das ideale Motiv, welchem freilich die Rea-
lität nur selten entsprach, war die öffentliche Wohlfahrt,
Salus publica, das grosze Statsprincip der Römer, welches sie
in den Statsangelegenheiten wenigstens in späterer Zeit mehr
anriefen als das Recht, Jus, so sehr sie im Privatrecht ge-
rade dieses zu Ehren brachten und ausbildeten.

Die römische Kaisergeschichte, wie sie diese absolute
Statsform im groszartigsten Maszstabe zur Erscheinung ge-
bracht, hat zugleich der Nachwelt die Warnung hinterlassen,
dasz ein solches Uebermasz von Macht weder zum Besten
dessen dient, der sie besitzt, noch der Nation, für welche sie
geübt werden soll. 11

In der Zeit des untergehenden und innerlich verdorbe-
nen Weltreiches mochte übrigens dieselbe nöthig und in dem
Schicksale hinreichend begründet sein. Die römische Aristo-
kratie war theils entartet, theils nicht stark genug, den un-
ermeszlichen Statskörper zu leiten. Von Zeit zu Zeit noch
ohnmächtige Versuche wagend, ihre frühere Herrschaft her-
zustellen, ergab sie sich doch in der Regel der zwingenden
Gewalt der neuen Verhältnisse. 12 Die Masse des Volkes, ohne
Anspruch auf Herrschaft, der Waffen entwöhnt, den Werken
und Genüssen des Friedens ergeben, zog sogar die Herrschaft
des Einen Kaisers dem Regimente des Senates vor, und freute
sich trotz der eigenen politischen Ohnmacht über die De-

11 Man vergleiche nur die folgenden Worte des Kaisers Tiberius,
welche ursprünglich vielleicht aufrichtig gemeint waren, mit seinen Tha-
ten. Sueton. Tiber. 29: „Dixi et nunc et saepe alias, P. C., bonum et
salutarem Principem, quem vos tanta et tam libera potestate exstruxistis,
senatui servire debere et universis civibus saepe et plerumque etiam sin-
gulis
: neque id dixisse me poenitet.“
12 Wie wenig damals die frühere republikanische Verfassung bei den
untern Volksclassen zu Rom populär war, zeigen die Vorgänge bei der
Erhebung des Kaisers Claudius.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0438" n="420"/><fw place="top" type="header">Sechstes Buch. Die Statsformen.</fw><lb/>
der sich Alles beugen muszte. Sie war die Concentration der<lb/>
römischen <hi rendition="#g">Weltherrschaft</hi>, das imperium mundi in <hi rendition="#g">Einem<lb/>
Individuum</hi>. Das ideale Motiv, welchem freilich die Rea-<lb/>
lität nur selten entsprach, war die <hi rendition="#g">öffentliche Wohlfahrt</hi>,<lb/>
Salus publica, das grosze Statsprincip der Römer, welches sie<lb/>
in den Statsangelegenheiten wenigstens in späterer Zeit mehr<lb/>
anriefen als das <hi rendition="#g">Recht</hi>, Jus, so sehr sie im Privatrecht ge-<lb/>
rade dieses zu Ehren brachten und ausbildeten.</p><lb/>
          <p>Die römische Kaisergeschichte, wie sie diese absolute<lb/>
Statsform im groszartigsten Maszstabe zur Erscheinung ge-<lb/>
bracht, hat zugleich der Nachwelt die Warnung hinterlassen,<lb/>
dasz ein solches Uebermasz von Macht weder zum Besten<lb/>
dessen dient, der sie besitzt, noch der Nation, für welche sie<lb/>
geübt werden soll. <note place="foot" n="11">Man vergleiche nur die folgenden Worte des Kaisers <hi rendition="#g">Tiberius</hi>,<lb/>
welche ursprünglich vielleicht aufrichtig gemeint waren, mit seinen Tha-<lb/>
ten. <hi rendition="#i">Sueton</hi>. Tiber. 29: &#x201E;Dixi et nunc et saepe alias, P. C., bonum et<lb/>
salutarem Principem, quem vos tanta et tam libera potestate exstruxistis,<lb/><hi rendition="#i">senatui servire</hi> debere et <hi rendition="#i">universis civibus</hi> saepe et plerumque etiam <hi rendition="#i">sin-<lb/>
gulis</hi>: neque id dixisse me poenitet.&#x201C;</note></p><lb/>
          <p>In der Zeit des untergehenden und innerlich verdorbe-<lb/>
nen Weltreiches mochte übrigens dieselbe nöthig und in dem<lb/>
Schicksale hinreichend begründet sein. Die römische Aristo-<lb/>
kratie war theils entartet, theils nicht stark genug, den un-<lb/>
ermeszlichen Statskörper zu leiten. Von Zeit zu Zeit noch<lb/>
ohnmächtige Versuche wagend, ihre frühere Herrschaft her-<lb/>
zustellen, ergab sie sich doch in der Regel der zwingenden<lb/>
Gewalt der neuen Verhältnisse. <note place="foot" n="12">Wie wenig damals die frühere republikanische Verfassung bei den<lb/>
untern Volksclassen zu Rom populär war, zeigen die Vorgänge bei der<lb/>
Erhebung des Kaisers <hi rendition="#g">Claudius</hi>.</note> Die Masse des Volkes, ohne<lb/>
Anspruch auf Herrschaft, der Waffen entwöhnt, den Werken<lb/>
und Genüssen des Friedens ergeben, zog sogar die Herrschaft<lb/>
des Einen Kaisers dem Regimente des Senates vor, und freute<lb/>
sich trotz der eigenen politischen Ohnmacht über die De-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[420/0438] Sechstes Buch. Die Statsformen. der sich Alles beugen muszte. Sie war die Concentration der römischen Weltherrschaft, das imperium mundi in Einem Individuum. Das ideale Motiv, welchem freilich die Rea- lität nur selten entsprach, war die öffentliche Wohlfahrt, Salus publica, das grosze Statsprincip der Römer, welches sie in den Statsangelegenheiten wenigstens in späterer Zeit mehr anriefen als das Recht, Jus, so sehr sie im Privatrecht ge- rade dieses zu Ehren brachten und ausbildeten. Die römische Kaisergeschichte, wie sie diese absolute Statsform im groszartigsten Maszstabe zur Erscheinung ge- bracht, hat zugleich der Nachwelt die Warnung hinterlassen, dasz ein solches Uebermasz von Macht weder zum Besten dessen dient, der sie besitzt, noch der Nation, für welche sie geübt werden soll. 11 In der Zeit des untergehenden und innerlich verdorbe- nen Weltreiches mochte übrigens dieselbe nöthig und in dem Schicksale hinreichend begründet sein. Die römische Aristo- kratie war theils entartet, theils nicht stark genug, den un- ermeszlichen Statskörper zu leiten. Von Zeit zu Zeit noch ohnmächtige Versuche wagend, ihre frühere Herrschaft her- zustellen, ergab sie sich doch in der Regel der zwingenden Gewalt der neuen Verhältnisse. 12 Die Masse des Volkes, ohne Anspruch auf Herrschaft, der Waffen entwöhnt, den Werken und Genüssen des Friedens ergeben, zog sogar die Herrschaft des Einen Kaisers dem Regimente des Senates vor, und freute sich trotz der eigenen politischen Ohnmacht über die De- 11 Man vergleiche nur die folgenden Worte des Kaisers Tiberius, welche ursprünglich vielleicht aufrichtig gemeint waren, mit seinen Tha- ten. Sueton. Tiber. 29: „Dixi et nunc et saepe alias, P. C., bonum et salutarem Principem, quem vos tanta et tam libera potestate exstruxistis, senatui servire debere et universis civibus saepe et plerumque etiam sin- gulis: neque id dixisse me poenitet.“ 12 Wie wenig damals die frühere republikanische Verfassung bei den untern Volksclassen zu Rom populär war, zeigen die Vorgänge bei der Erhebung des Kaisers Claudius.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/438
Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 420. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/438>, abgerufen am 23.11.2024.