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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Fünftes Buch. Der Statszweck.
Jahrhunderts gemacht hat, haben das Wort vollends in Misz-
credit gebracht.

Wenn man aber die naturgemäszen Schranken des States
beachtet, insbesondere die Rechtsordnung und nicht in
fremde Gebiete übergreift, wie vorzüglich des freien Indi-
viduallebens
und des religiösen Gemeinlebens,
dann ist der Ausdruck nicht zu tadeln. In der That hat es
nie und nirgends einen Statsmann gegeben, dem nicht das
Wohl seines Volkes voraus als das Ziel seines Strebens
vorgeschwebt hätte, und jeder patriotische Bürger wird für
das Heil seines Vaterlands begeistert.

Die Idee der öffentlichen Wohlfahrt ist daher für die
Politik nicht zu entbehren, und es ist unzweifelhaft die Haupt-
aufgabe des States, das Volkswohl zu befördern.

Diese Zweckbestimmung umfaszt auch die Fortbildung
und die Vervollkommnung des Rechts, wie überhaupt die
Verbesserung aller gemeinsamen Lebensverhältnisse und Le-
bensbedingungen. Ebenso die Rechtspflege, deren Wirksam-
keit den ruhigen Fortgang des Gemeinlebens sichert und
welche das gemeinschädliche Unrecht beseitigt und bestraft.
Die bedenkliche Seite des römischen Statsprincips: "Salus
Populi suprema lex esto" liegt überhaupt nicht darin, dasz
der Statszweck zu enge gefaszt sei, sondern darin, dasz die
Statsmacht überspannt und auf fremde Lebensgebiete aus-
gedehnt werde.

4. Aber in Einer Beziehung erscheint der Ausdruck doch
als unzureichend. Die regelmäszige Politik wird sich aller-
dings durch das Streben für das Volkswohl bestimmen lassen.
Aber es gibt im Völkerleben auch auszergewöhnliche Auf-
gaben. Unter Umständen musz der Stat, wie ein Einzel-
mensch, seine Existenz im Kampfe einsetzen und mit dieser
auch die Volkswohlfahrt. Es kann dann zur patriotischen
Pflicht werden, ein Leben aufzugeben, das mit Ehren nicht
fortzuführen ist. Vielleicht dasz einem kleinen Volke ein über-

Fünftes Buch. Der Statszweck.
Jahrhunderts gemacht hat, haben das Wort vollends in Misz-
credit gebracht.

Wenn man aber die naturgemäszen Schranken des States
beachtet, insbesondere die Rechtsordnung und nicht in
fremde Gebiete übergreift, wie vorzüglich des freien Indi-
viduallebens
und des religiösen Gemeinlebens,
dann ist der Ausdruck nicht zu tadeln. In der That hat es
nie und nirgends einen Statsmann gegeben, dem nicht das
Wohl seines Volkes voraus als das Ziel seines Strebens
vorgeschwebt hätte, und jeder patriotische Bürger wird für
das Heil seines Vaterlands begeistert.

Die Idee der öffentlichen Wohlfahrt ist daher für die
Politik nicht zu entbehren, und es ist unzweifelhaft die Haupt-
aufgabe des States, das Volkswohl zu befördern.

Diese Zweckbestimmung umfaszt auch die Fortbildung
und die Vervollkommnung des Rechts, wie überhaupt die
Verbesserung aller gemeinsamen Lebensverhältnisse und Le-
bensbedingungen. Ebenso die Rechtspflege, deren Wirksam-
keit den ruhigen Fortgang des Gemeinlebens sichert und
welche das gemeinschädliche Unrecht beseitigt und bestraft.
Die bedenkliche Seite des römischen Statsprincips: „Salus
Populi suprema lex esto“ liegt überhaupt nicht darin, dasz
der Statszweck zu enge gefaszt sei, sondern darin, dasz die
Statsmacht überspannt und auf fremde Lebensgebiete aus-
gedehnt werde.

4. Aber in Einer Beziehung erscheint der Ausdruck doch
als unzureichend. Die regelmäszige Politik wird sich aller-
dings durch das Streben für das Volkswohl bestimmen lassen.
Aber es gibt im Völkerleben auch auszergewöhnliche Auf-
gaben. Unter Umständen musz der Stat, wie ein Einzel-
mensch, seine Existenz im Kampfe einsetzen und mit dieser
auch die Volkswohlfahrt. Es kann dann zur patriotischen
Pflicht werden, ein Leben aufzugeben, das mit Ehren nicht
fortzuführen ist. Vielleicht dasz einem kleinen Volke ein über-

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[360/0378] Fünftes Buch. Der Statszweck. Jahrhunderts gemacht hat, haben das Wort vollends in Misz- credit gebracht. Wenn man aber die naturgemäszen Schranken des States beachtet, insbesondere die Rechtsordnung und nicht in fremde Gebiete übergreift, wie vorzüglich des freien Indi- viduallebens und des religiösen Gemeinlebens, dann ist der Ausdruck nicht zu tadeln. In der That hat es nie und nirgends einen Statsmann gegeben, dem nicht das Wohl seines Volkes voraus als das Ziel seines Strebens vorgeschwebt hätte, und jeder patriotische Bürger wird für das Heil seines Vaterlands begeistert. Die Idee der öffentlichen Wohlfahrt ist daher für die Politik nicht zu entbehren, und es ist unzweifelhaft die Haupt- aufgabe des States, das Volkswohl zu befördern. Diese Zweckbestimmung umfaszt auch die Fortbildung und die Vervollkommnung des Rechts, wie überhaupt die Verbesserung aller gemeinsamen Lebensverhältnisse und Le- bensbedingungen. Ebenso die Rechtspflege, deren Wirksam- keit den ruhigen Fortgang des Gemeinlebens sichert und welche das gemeinschädliche Unrecht beseitigt und bestraft. Die bedenkliche Seite des römischen Statsprincips: „Salus Populi suprema lex esto“ liegt überhaupt nicht darin, dasz der Statszweck zu enge gefaszt sei, sondern darin, dasz die Statsmacht überspannt und auf fremde Lebensgebiete aus- gedehnt werde. 4. Aber in Einer Beziehung erscheint der Ausdruck doch als unzureichend. Die regelmäszige Politik wird sich aller- dings durch das Streben für das Volkswohl bestimmen lassen. Aber es gibt im Völkerleben auch auszergewöhnliche Auf- gaben. Unter Umständen musz der Stat, wie ein Einzel- mensch, seine Existenz im Kampfe einsetzen und mit dieser auch die Volkswohlfahrt. Es kann dann zur patriotischen Pflicht werden, ein Leben aufzugeben, das mit Ehren nicht fortzuführen ist. Vielleicht dasz einem kleinen Volke ein über-

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 360. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/378>, abgerufen am 04.05.2024.