Erstes Capitel. Statsbegriff u. Statsidee. Der allgemeine Statsbegriff.
4. In allen Staten tritt der Gegensatz zwischen Regie- renden und Regierten, oder um uns eines alten, zuweilen miszverstandenen und auch wohl miszbrauchten Ausdrucks zu bedienen, der aber an und für sich weder gehässig noch un- frei ist, zwischen Obrigkeit und Unterthanen, zwar in den mannichfaltigsten Formen, aber immerhin als nothwendig hervor. Selbst in der ausgebildetsten Demokratie, in welcher dieser Gegensatz zu verschwinden scheint, ist derselbe den- noch vorhanden. Die Volksgemeinde der athenischen Bürger war die Obrigkeit, und die einzelnen Athener waren im Ver- hältnisz zu jener Unterthanen.
Wo es keine Obrigkeit mehr gibt, welche die Autorität besizt, wo die Regierten den politischen Gehorsam gekündigt haben, und Jeder thut wozu ihn die Lust treibt, wo Anar- chie ist, da hat der Stat aufgehört. Die Anarchie kann aber, wie alle Negation, so wenig dauern, dasz sich aus ihr sofort wieder, wenn auch in roher und oft grausamer despotischer Form, unter jedem lebendigen Volke eine Art von neuer Obrigkeit aufwirft, welche sich Gehorsam erzwingt, und so jenen unentbehrlichen Gegensatz herstellt. Die Communisten verneinen zwar denselben in ihren Theorien, aber damit ver- neinen sie den Stat selbst. Auch ist es ihnen noch unter keinem Volke gelungen, mit Vernichtung des States ihren blosz gesellschaftlichen Verband einzuführen, und würde es ihnen je gelingen, vorübergehend die Massen für sich und ihre Plane einzunehmen, so wäre, nach dem Vorbilde der religiösen Communisten des XVI. Jahrhunderts, der Wieder- täufer, und nach der innern Consequenz der Dinge, mit Sicher- heit darauf zu rechnen, dasz auch sie wieder eine Herrschaft, und zwar die härteste, die es je gegeben, aufrichten würden.
Bei den slavischen Völkern finden wir die alte Idee, dasz nur die Einstimmigkeit aller Gemeindeglieder den Gemeinwillen hervorbringe und nicht die Mehrheit noch eine höhere Stimme entscheide. Das kann aber höchstens als
Bluntschli, allgemeine Statslehre. 2
Erstes Capitel. Statsbegriff u. Statsidee. Der allgemeine Statsbegriff.
4. In allen Staten tritt der Gegensatz zwischen Regie- renden und Regierten, oder um uns eines alten, zuweilen miszverstandenen und auch wohl miszbrauchten Ausdrucks zu bedienen, der aber an und für sich weder gehässig noch un- frei ist, zwischen Obrigkeit und Unterthanen, zwar in den mannichfaltigsten Formen, aber immerhin als nothwendig hervor. Selbst in der ausgebildetsten Demokratie, in welcher dieser Gegensatz zu verschwinden scheint, ist derselbe den- noch vorhanden. Die Volksgemeinde der athenischen Bürger war die Obrigkeit, und die einzelnen Athener waren im Ver- hältnisz zu jener Unterthanen.
Wo es keine Obrigkeit mehr gibt, welche die Autorität besizt, wo die Regierten den politischen Gehorsam gekündigt haben, und Jeder thut wozu ihn die Lust treibt, wo Anar- chie ist, da hat der Stat aufgehört. Die Anarchie kann aber, wie alle Negation, so wenig dauern, dasz sich aus ihr sofort wieder, wenn auch in roher und oft grausamer despotischer Form, unter jedem lebendigen Volke eine Art von neuer Obrigkeit aufwirft, welche sich Gehorsam erzwingt, und so jenen unentbehrlichen Gegensatz herstellt. Die Communisten verneinen zwar denselben in ihren Theorien, aber damit ver- neinen sie den Stat selbst. Auch ist es ihnen noch unter keinem Volke gelungen, mit Vernichtung des States ihren blosz gesellschaftlichen Verband einzuführen, und würde es ihnen je gelingen, vorübergehend die Massen für sich und ihre Plane einzunehmen, so wäre, nach dem Vorbilde der religiösen Communisten des XVI. Jahrhunderts, der Wieder- täufer, und nach der innern Consequenz der Dinge, mit Sicher- heit darauf zu rechnen, dasz auch sie wieder eine Herrschaft, und zwar die härteste, die es je gegeben, aufrichten würden.
Bei den slavischen Völkern finden wir die alte Idee, dasz nur die Einstimmigkeit aller Gemeindeglieder den Gemeinwillen hervorbringe und nicht die Mehrheit noch eine höhere Stimme entscheide. Das kann aber höchstens als
Bluntschli, allgemeine Statslehre. 2
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Erstes Capitel. Statsbegriff u. Statsidee. Der allgemeine Statsbegriff.
4. In allen Staten tritt der Gegensatz zwischen Regie-
renden und Regierten, oder um uns eines alten, zuweilen
miszverstandenen und auch wohl miszbrauchten Ausdrucks zu
bedienen, der aber an und für sich weder gehässig noch un-
frei ist, zwischen Obrigkeit und Unterthanen, zwar in
den mannichfaltigsten Formen, aber immerhin als nothwendig
hervor. Selbst in der ausgebildetsten Demokratie, in welcher
dieser Gegensatz zu verschwinden scheint, ist derselbe den-
noch vorhanden. Die Volksgemeinde der athenischen Bürger
war die Obrigkeit, und die einzelnen Athener waren im Ver-
hältnisz zu jener Unterthanen.
Wo es keine Obrigkeit mehr gibt, welche die Autorität
besizt, wo die Regierten den politischen Gehorsam gekündigt
haben, und Jeder thut wozu ihn die Lust treibt, wo Anar-
chie ist, da hat der Stat aufgehört. Die Anarchie kann aber,
wie alle Negation, so wenig dauern, dasz sich aus ihr sofort
wieder, wenn auch in roher und oft grausamer despotischer
Form, unter jedem lebendigen Volke eine Art von neuer
Obrigkeit aufwirft, welche sich Gehorsam erzwingt, und so
jenen unentbehrlichen Gegensatz herstellt. Die Communisten
verneinen zwar denselben in ihren Theorien, aber damit ver-
neinen sie den Stat selbst. Auch ist es ihnen noch unter
keinem Volke gelungen, mit Vernichtung des States ihren
blosz gesellschaftlichen Verband einzuführen, und würde
es ihnen je gelingen, vorübergehend die Massen für sich und
ihre Plane einzunehmen, so wäre, nach dem Vorbilde der
religiösen Communisten des XVI. Jahrhunderts, der Wieder-
täufer, und nach der innern Consequenz der Dinge, mit Sicher-
heit darauf zu rechnen, dasz auch sie wieder eine Herrschaft,
und zwar die härteste, die es je gegeben, aufrichten würden.
Bei den slavischen Völkern finden wir die alte Idee,
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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 17. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/35>, abgerufen am 22.12.2024.
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