der groszen Völkerwanderung die Völker ihre Wohnsitze ver- lieszen und neue zu erobern unternahmen, befanden sie sich in einem unsicheren Uebergangszustande. Der frühere Stat, den sie gebildet hatten, bestand nicht mehr, der neue noch nicht. Der persönliche Verband dauerte noch eine Weile fort, der Zusammenhang mit dem Lande war gelöst. Nur wenn es ihnen gelang, von neuem festen Boden zu gewinnen, so glückte es ihnen eben deszhalb, einen neuen Stat herzustellen; die Völker aber, welchen das nicht gelang, gingen unter. So retteten die Athener unter Themistokles auf ihren Schiffen den Stat Athen, weil sie nach dem Siege die Stadt wieder einnahmen; aber die Cimbern und Teutonen gingen unter, weil sie die alte Heimat verlassen hatten und keine neue er- warben. Sogar der römische Stat wäre untergegangen, wenn sich die Römer nach dem Brande der Stadt nach Veji über- gesiedelt hätten.
3. In dem State stellt sich die Einheit des Ganzen, die Zusammengehörigkeit des Volkes dar. Im Innern sind zwar verschiedene Gliederungen möglich mit groszer und eigenthümlicher Selbständigkeit, wie in Rom der Populus der Patricier und daneben die Plebes, wie im ältern ger- manischen Mittelalter die Volksverfassung neben der Lehensverfassung. Der Stat kann auch aus mehreren Theilen zusammengesetzt sein, die in sich selber wieder Staten bilden, wie aus dem alten deutschen Reich allmälich Territorialstaten herausgewachsen sind, oder wie in den modernen Bundesstaten Nordamerikas und der Schweiz und ebenso in dem neuen deutschen Reich ein gemeinsamer Gesammtstat und eine Anzahl verbün- deter Länderstaten zugleich bestehen. Aber wenn die Gemeinschaft nicht, sei es in ihrem innern Organismus, einen einheitlichen Zusammenhang besizt, sei es im Verhältnisz zu den auswärtigen Staten sich als ein zusammengehöriges Ganzes darstellt, so ist kein Stat da.
Erstes Buch. Der Statsbegriff.
der groszen Völkerwanderung die Völker ihre Wohnsitze ver- lieszen und neue zu erobern unternahmen, befanden sie sich in einem unsicheren Uebergangszustande. Der frühere Stat, den sie gebildet hatten, bestand nicht mehr, der neue noch nicht. Der persönliche Verband dauerte noch eine Weile fort, der Zusammenhang mit dem Lande war gelöst. Nur wenn es ihnen gelang, von neuem festen Boden zu gewinnen, so glückte es ihnen eben deszhalb, einen neuen Stat herzustellen; die Völker aber, welchen das nicht gelang, gingen unter. So retteten die Athener unter Themistokles auf ihren Schiffen den Stat Athen, weil sie nach dem Siege die Stadt wieder einnahmen; aber die Cimbern und Teutonen gingen unter, weil sie die alte Heimat verlassen hatten und keine neue er- warben. Sogar der römische Stat wäre untergegangen, wenn sich die Römer nach dem Brande der Stadt nach Veji über- gesiedelt hätten.
3. In dem State stellt sich die Einheit des Ganzen, die Zusammengehörigkeit des Volkes dar. Im Innern sind zwar verschiedene Gliederungen möglich mit groszer und eigenthümlicher Selbständigkeit, wie in Rom der Populus der Patricier und daneben die Plebes, wie im ältern ger- manischen Mittelalter die Volksverfassung neben der Lehensverfassung. Der Stat kann auch aus mehreren Theilen zusammengesetzt sein, die in sich selber wieder Staten bilden, wie aus dem alten deutschen Reich allmälich Territorialstaten herausgewachsen sind, oder wie in den modernen Bundesstaten Nordamerikas und der Schweiz und ebenso in dem neuen deutschen Reich ein gemeinsamer Gesammtstat und eine Anzahl verbün- deter Länderstaten zugleich bestehen. Aber wenn die Gemeinschaft nicht, sei es in ihrem innern Organismus, einen einheitlichen Zusammenhang besizt, sei es im Verhältnisz zu den auswärtigen Staten sich als ein zusammengehöriges Ganzes darstellt, so ist kein Stat da.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0034"n="16"/><fwplace="top"type="header">Erstes Buch. Der Statsbegriff.</fw><lb/>
der groszen Völkerwanderung die Völker ihre Wohnsitze ver-<lb/>
lieszen und neue zu erobern unternahmen, befanden sie sich<lb/>
in einem unsicheren Uebergangszustande. Der frühere Stat,<lb/>
den sie gebildet hatten, bestand nicht mehr, der neue noch<lb/>
nicht. Der persönliche Verband dauerte noch eine Weile fort,<lb/>
der Zusammenhang mit dem Lande war gelöst. Nur wenn es<lb/>
ihnen gelang, von neuem festen Boden zu gewinnen, so glückte<lb/>
es ihnen eben deszhalb, einen neuen Stat herzustellen; die<lb/>
Völker aber, welchen das nicht gelang, gingen unter. So<lb/>
retteten die Athener unter Themistokles auf ihren Schiffen<lb/>
den Stat Athen, weil sie nach dem Siege die Stadt wieder<lb/>
einnahmen; aber die Cimbern und Teutonen gingen unter,<lb/>
weil sie die alte Heimat verlassen hatten und keine neue er-<lb/>
warben. Sogar der römische Stat wäre untergegangen, wenn<lb/>
sich die Römer nach dem Brande der Stadt nach <hirendition="#g">Veji</hi> über-<lb/>
gesiedelt hätten.</p><lb/><p>3. In dem State stellt sich die <hirendition="#g">Einheit des Ganzen</hi>,<lb/>
die <hirendition="#g">Zusammengehörigkeit</hi> des Volkes dar. Im Innern<lb/>
sind zwar verschiedene Gliederungen möglich mit groszer und<lb/>
eigenthümlicher Selbständigkeit, wie in Rom der <hirendition="#g">Populus</hi><lb/>
der Patricier und daneben die <hirendition="#g">Plebes</hi>, wie im ältern ger-<lb/>
manischen Mittelalter die <hirendition="#g">Volksverfassung</hi> neben der<lb/><hirendition="#g">Lehensverfassung</hi>. Der Stat kann auch aus mehreren<lb/>
Theilen zusammengesetzt sein, die in sich selber wieder Staten<lb/>
bilden, wie aus dem <hirendition="#g">alten deutschen</hi> Reich allmälich<lb/><hirendition="#g">Territorialstaten</hi> herausgewachsen sind, oder wie in den<lb/>
modernen <hirendition="#g">Bundesstaten Nordamerikas</hi> und der<lb/><hirendition="#g">Schweiz</hi> und ebenso in dem <hirendition="#g">neuen deutschen Reich</hi><lb/>
ein gemeinsamer <hirendition="#g">Gesammtstat</hi> und eine Anzahl <hirendition="#g">verbün-<lb/>
deter Länderstaten</hi> zugleich bestehen. Aber wenn die<lb/>
Gemeinschaft nicht, sei es in ihrem innern Organismus, einen<lb/>
einheitlichen Zusammenhang besizt, sei es im Verhältnisz zu<lb/>
den auswärtigen Staten sich als ein zusammengehöriges Ganzes<lb/>
darstellt, so ist kein Stat da.</p><lb/></div></div></body></text></TEI>
[16/0034]
Erstes Buch. Der Statsbegriff.
der groszen Völkerwanderung die Völker ihre Wohnsitze ver-
lieszen und neue zu erobern unternahmen, befanden sie sich
in einem unsicheren Uebergangszustande. Der frühere Stat,
den sie gebildet hatten, bestand nicht mehr, der neue noch
nicht. Der persönliche Verband dauerte noch eine Weile fort,
der Zusammenhang mit dem Lande war gelöst. Nur wenn es
ihnen gelang, von neuem festen Boden zu gewinnen, so glückte
es ihnen eben deszhalb, einen neuen Stat herzustellen; die
Völker aber, welchen das nicht gelang, gingen unter. So
retteten die Athener unter Themistokles auf ihren Schiffen
den Stat Athen, weil sie nach dem Siege die Stadt wieder
einnahmen; aber die Cimbern und Teutonen gingen unter,
weil sie die alte Heimat verlassen hatten und keine neue er-
warben. Sogar der römische Stat wäre untergegangen, wenn
sich die Römer nach dem Brande der Stadt nach Veji über-
gesiedelt hätten.
3. In dem State stellt sich die Einheit des Ganzen,
die Zusammengehörigkeit des Volkes dar. Im Innern
sind zwar verschiedene Gliederungen möglich mit groszer und
eigenthümlicher Selbständigkeit, wie in Rom der Populus
der Patricier und daneben die Plebes, wie im ältern ger-
manischen Mittelalter die Volksverfassung neben der
Lehensverfassung. Der Stat kann auch aus mehreren
Theilen zusammengesetzt sein, die in sich selber wieder Staten
bilden, wie aus dem alten deutschen Reich allmälich
Territorialstaten herausgewachsen sind, oder wie in den
modernen Bundesstaten Nordamerikas und der
Schweiz und ebenso in dem neuen deutschen Reich
ein gemeinsamer Gesammtstat und eine Anzahl verbün-
deter Länderstaten zugleich bestehen. Aber wenn die
Gemeinschaft nicht, sei es in ihrem innern Organismus, einen
einheitlichen Zusammenhang besizt, sei es im Verhältnisz zu
den auswärtigen Staten sich als ein zusammengehöriges Ganzes
darstellt, so ist kein Stat da.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 16. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/34>, abgerufen am 22.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.