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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Neunzehntes Cap. Verhältnisz d. States zur Familie. 1. Geschlechterstat etc.
dasz sogar die Wahl oder vielmehr die Kur das Erbrecht er-
gänzt oder ersetzt.

Der eigentliche familienartige Stat aber ist die Patri-
archie
. Am zähesten hält das chinesische Reich "der
Mitte" (d. h. der Vollkommenheit) seit Jahrtausenden an der
Fiction fest, dasz das Statshaupt der Vater der Nation sei.
Die ersten Gründer und Bildner auch dieses States waren, wie
Gobineau es wahrscheinlich gemacht hat, von arischem Ge-
schlecht. Ihnen schreibt er auch die erste Mittheilung der
patriarchalischen Idee zu. Aber die ungeheure Masse der
Bevölkerung, welche nach und nach in dem groszen Reiche zu
Einer Familie vereinigt wurde, ist von malayischem Stamme,
in welchem die Elemente der gelben Rasse überwiegend, wenn
gleich durch die Beimischung mit schwarzen einigermaszen
getrübt sind, und diese Bevölkerung, von Natur zu ruhigem
materiellem Lebensgenusz geneigt, fügt sich willig dem väter-
lichen Absolutismus ihrer Beherrscher und verehrt in der
überlieferten Statsordnung die heilige Civilisation. Der trotzige
Freiheitssinn, wie er allen arischen Völkern eingepflanzt ist,
regt sie nicht auf und nach höheren Ideen sehnt sie sich
nicht. Die Autorität des Kaisers ist zwar in der Theorie ab-
solut, in der Realität aber wird sie durch den ruheliebenden
Geist sämmtlicher Volksclassen, durch die gelehrte Schul-
bildung der Mandarinen, und vor allem durch die Macht des
hergebrachten Familienbrauches vielfältig beschränkt. "Der
Sohn des Himmels vermag Alles, unter der Bedingung, dasz
er nur das Bekannte und Herkömmliche wolle." (Gobineau.)
Eine männlich-politische Entwicklung aber ist in dem väter-
lichen State unmöglich. Die Menschen werden von ihm in
dem Zustand der Kindheit zurück gehalten, in welchem die
Statsform selbst verharrt.

Eine ganz andere Frage ist die nach dem Einflusse des
Familienlebens
auf die Statswohlfahrt. Dieser meistens
mittelbare aber tief greifende Einflusz kann nicht leicht zu hoch

Neunzehntes Cap. Verhältnisz d. States zur Familie. 1. Geschlechterstat etc.
dasz sogar die Wahl oder vielmehr die Kur das Erbrecht er-
gänzt oder ersetzt.

Der eigentliche familienartige Stat aber ist die Patri-
archie
. Am zähesten hält das chinesische Reich „der
Mitte“ (d. h. der Vollkommenheit) seit Jahrtausenden an der
Fiction fest, dasz das Statshaupt der Vater der Nation sei.
Die ersten Gründer und Bildner auch dieses States waren, wie
Gobineau es wahrscheinlich gemacht hat, von arischem Ge-
schlecht. Ihnen schreibt er auch die erste Mittheilung der
patriarchalischen Idee zu. Aber die ungeheure Masse der
Bevölkerung, welche nach und nach in dem groszen Reiche zu
Einer Familie vereinigt wurde, ist von malayischem Stamme,
in welchem die Elemente der gelben Rasse überwiegend, wenn
gleich durch die Beimischung mit schwarzen einigermaszen
getrübt sind, und diese Bevölkerung, von Natur zu ruhigem
materiellem Lebensgenusz geneigt, fügt sich willig dem väter-
lichen Absolutismus ihrer Beherrscher und verehrt in der
überlieferten Statsordnung die heilige Civilisation. Der trotzige
Freiheitssinn, wie er allen arischen Völkern eingepflanzt ist,
regt sie nicht auf und nach höheren Ideen sehnt sie sich
nicht. Die Autorität des Kaisers ist zwar in der Theorie ab-
solut, in der Realität aber wird sie durch den ruheliebenden
Geist sämmtlicher Volksclassen, durch die gelehrte Schul-
bildung der Mandarinen, und vor allem durch die Macht des
hergebrachten Familienbrauches vielfältig beschränkt. „Der
Sohn des Himmels vermag Alles, unter der Bedingung, dasz
er nur das Bekannte und Herkömmliche wolle.“ (Gobineau.)
Eine männlich-politische Entwicklung aber ist in dem väter-
lichen State unmöglich. Die Menschen werden von ihm in
dem Zustand der Kindheit zurück gehalten, in welchem die
Statsform selbst verharrt.

Eine ganz andere Frage ist die nach dem Einflusse des
Familienlebens
auf die Statswohlfahrt. Dieser meistens
mittelbare aber tief greifende Einflusz kann nicht leicht zu hoch

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[219/0237] Neunzehntes Cap. Verhältnisz d. States zur Familie. 1. Geschlechterstat etc. dasz sogar die Wahl oder vielmehr die Kur das Erbrecht er- gänzt oder ersetzt. Der eigentliche familienartige Stat aber ist die Patri- archie. Am zähesten hält das chinesische Reich „der Mitte“ (d. h. der Vollkommenheit) seit Jahrtausenden an der Fiction fest, dasz das Statshaupt der Vater der Nation sei. Die ersten Gründer und Bildner auch dieses States waren, wie Gobineau es wahrscheinlich gemacht hat, von arischem Ge- schlecht. Ihnen schreibt er auch die erste Mittheilung der patriarchalischen Idee zu. Aber die ungeheure Masse der Bevölkerung, welche nach und nach in dem groszen Reiche zu Einer Familie vereinigt wurde, ist von malayischem Stamme, in welchem die Elemente der gelben Rasse überwiegend, wenn gleich durch die Beimischung mit schwarzen einigermaszen getrübt sind, und diese Bevölkerung, von Natur zu ruhigem materiellem Lebensgenusz geneigt, fügt sich willig dem väter- lichen Absolutismus ihrer Beherrscher und verehrt in der überlieferten Statsordnung die heilige Civilisation. Der trotzige Freiheitssinn, wie er allen arischen Völkern eingepflanzt ist, regt sie nicht auf und nach höheren Ideen sehnt sie sich nicht. Die Autorität des Kaisers ist zwar in der Theorie ab- solut, in der Realität aber wird sie durch den ruheliebenden Geist sämmtlicher Volksclassen, durch die gelehrte Schul- bildung der Mandarinen, und vor allem durch die Macht des hergebrachten Familienbrauches vielfältig beschränkt. „Der Sohn des Himmels vermag Alles, unter der Bedingung, dasz er nur das Bekannte und Herkömmliche wolle.“ (Gobineau.) Eine männlich-politische Entwicklung aber ist in dem väter- lichen State unmöglich. Die Menschen werden von ihm in dem Zustand der Kindheit zurück gehalten, in welchem die Statsform selbst verharrt. Eine ganz andere Frage ist die nach dem Einflusse des Familienlebens auf die Statswohlfahrt. Dieser meistens mittelbare aber tief greifende Einflusz kann nicht leicht zu hoch

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 219. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/237>, abgerufen am 28.04.2024.