Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

Bild:
<< vorherige Seite

Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u.
Volksnatur.
Gestalt auf der mit Trümmern bedeckten Ebene herzustellen.
Aber keiner derselben gelangte zu festem Bestand.

Am interessantesten ist der Versuch Napoleons, welcher
in der Aristokratie eine unentbehrliche Stütze und zugleich eine
Schranke der Monarchie erkannte. In dem Orden der Ehren-
legion
schuf er gewissermaszen einen modernen Ritter-
adel
, der jedem höhern Verdienste um den Stat im weitesten
Sinne zugänglich, seinem Wesen nach aber nur eine indivi-
duelle Ehrenauszeichnung
war. Er hatte überdem vor,
eine höhere erbliche Aristokratie zu gründen, in welcher
die übrig gebliebenen Familien des alten historischen Adels
mit den Nachkommen der neuen französischen Marschälle,
Statsminister und anderer hohen Reichsbeamten und Würde-
träger vereinigt worden wären. Man sieht, Napoleon dachte
daran, die Institutionen der ersten römischen Kaiserzeit mit
den Ueberlieferungen der französischen Geschichte zu combi-
niren. Indessen hatte er kaum durch das Statut vom 1. März
1808 die ersten Anfänge zu dieser Erneuerung des Adels ge-
legt, als sein eigener Sturz die Fortbildung unterbrach. 14


14 Napoleon im Mem. de St. Hel. bei Las Casas V. 36 ff.: "Die
Aristokratie ist die Stütze und der Moderator der Monarchie, sie hebt
diese empor und leistet ihr Widerstand. Der Stat ohne Aristokratie ist
ein Schiff ohne Steuer (?), ein Luftballon, von den Winden geschaukelt.
Das Heilsame der Aristokratie aber, ihr Zauber liegt in ihrem Alter, in
der Zeit; und gerade das ist das Einzige, was ich nicht schaffen kann.
Die vernünftige Demokratie begnügt sich, für alle die Gleichheit des
Strebens und die Erreichbarkeit des Zieles zu erhalten (a tous l'ega-
lite pour pretendre et obtenir). Es kam nun darauf an, die Trümmer
der Aristokratie mit den Formen und Intentionen der Demokratie zu
versöhnen. Voraus galt es, die groszen alten Namen unserer Geschichte
zu sammeln. -- Ich hatte in meiner Mappe einen Entwurf. Jeder Nach-
komme eines gewesenen Marschalls oder Ministers wäre zu seiner Zeit
fähig gewesen, indem er die erforderliche Ausstattung nachgewiesen,
sich zum Herzog erklären zu lassen. Jeder Sohn eines Generals oder
Statthalters einer Provinz hätte sich jeder Zeit als Graf können aner-
kennen lassen und so weiter. Diese Einrichtung hätte die einen geför-
dert, die Hoffnungen der andern aufrecht erhalten, den Wetteifer aller
angeregt, und den Stolz niemandes verletzt." Vgl. auch V. 161 und

Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u.
Volksnatur.
Gestalt auf der mit Trümmern bedeckten Ebene herzustellen.
Aber keiner derselben gelangte zu festem Bestand.

Am interessantesten ist der Versuch Napoleons, welcher
in der Aristokratie eine unentbehrliche Stütze und zugleich eine
Schranke der Monarchie erkannte. In dem Orden der Ehren-
legion
schuf er gewissermaszen einen modernen Ritter-
adel
, der jedem höhern Verdienste um den Stat im weitesten
Sinne zugänglich, seinem Wesen nach aber nur eine indivi-
duelle Ehrenauszeichnung
war. Er hatte überdem vor,
eine höhere erbliche Aristokratie zu gründen, in welcher
die übrig gebliebenen Familien des alten historischen Adels
mit den Nachkommen der neuen französischen Marschälle,
Statsminister und anderer hohen Reichsbeamten und Würde-
träger vereinigt worden wären. Man sieht, Napoleon dachte
daran, die Institutionen der ersten römischen Kaiserzeit mit
den Ueberlieferungen der französischen Geschichte zu combi-
niren. Indessen hatte er kaum durch das Statut vom 1. März
1808 die ersten Anfänge zu dieser Erneuerung des Adels ge-
legt, als sein eigener Sturz die Fortbildung unterbrach. 14


14 Napoleon im Mém. de St. Hel. bei Las Casas V. 36 ff.: „Die
Aristokratie ist die Stütze und der Moderator der Monarchie, sie hebt
diese empor und leistet ihr Widerstand. Der Stat ohne Aristokratie ist
ein Schiff ohne Steuer (?), ein Luftballon, von den Winden geschaukelt.
Das Heilsame der Aristokratie aber, ihr Zauber liegt in ihrem Alter, in
der Zeit; und gerade das ist das Einzige, was ich nicht schaffen kann.
Die vernünftige Demokratie begnügt sich, für alle die Gleichheit des
Strebens und die Erreichbarkeit des Zieles zu erhalten (à tous l'éga-
lité pour prétendre et obtenir). Es kam nun darauf an, die Trümmer
der Aristokratie mit den Formen und Intentionen der Demokratie zu
versöhnen. Voraus galt es, die groszen alten Namen unserer Geschichte
zu sammeln. — Ich hatte in meiner Mappe einen Entwurf. Jeder Nach-
komme eines gewesenen Marschalls oder Ministers wäre zu seiner Zeit
fähig gewesen, indem er die erforderliche Ausstattung nachgewiesen,
sich zum Herzog erklären zu lassen. Jeder Sohn eines Generals oder
Statthalters einer Provinz hätte sich jeder Zeit als Graf können aner-
kennen lassen und so weiter. Diese Einrichtung hätte die einen geför-
dert, die Hoffnungen der andern aufrecht erhalten, den Wetteifer aller
angeregt, und den Stolz niemandes verletzt.“ Vgl. auch V. 161 und
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0170" n="152"/><fw place="top" type="header">Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u.<lb/>
Volksnatur.</fw><lb/>
Gestalt auf der mit Trümmern bedeckten Ebene herzustellen.<lb/>
Aber keiner derselben gelangte zu festem Bestand.</p><lb/>
          <p>Am interessantesten ist der Versuch <hi rendition="#g">Napoleons</hi>, welcher<lb/>
in der Aristokratie eine unentbehrliche Stütze und zugleich eine<lb/>
Schranke der Monarchie erkannte. In dem Orden der <hi rendition="#g">Ehren-<lb/>
legion</hi> schuf er gewissermaszen einen <hi rendition="#g">modernen Ritter-<lb/>
adel</hi>, der jedem höhern Verdienste um den Stat im weitesten<lb/>
Sinne zugänglich, seinem Wesen nach aber nur eine <hi rendition="#g">indivi-<lb/>
duelle Ehrenauszeichnung</hi> war. Er hatte überdem vor,<lb/>
eine <hi rendition="#g">höhere erbliche Aristokratie</hi> zu gründen, in welcher<lb/>
die übrig gebliebenen Familien des alten historischen Adels<lb/>
mit den Nachkommen der neuen französischen Marschälle,<lb/>
Statsminister und anderer hohen Reichsbeamten und Würde-<lb/>
träger vereinigt worden wären. Man sieht, Napoleon dachte<lb/>
daran, die Institutionen der ersten römischen Kaiserzeit mit<lb/>
den Ueberlieferungen der französischen Geschichte zu combi-<lb/>
niren. Indessen hatte er kaum durch das Statut vom 1. März<lb/>
1808 die ersten Anfänge zu dieser Erneuerung des Adels ge-<lb/>
legt, als sein eigener Sturz die Fortbildung unterbrach. <note xml:id="note-0170" next="#note-0096" place="foot" n="14"><hi rendition="#g">Napoleon</hi> im Mém. de St. Hel. bei Las Casas V. 36 ff.: &#x201E;Die<lb/>
Aristokratie ist die Stütze und der Moderator der Monarchie, sie hebt<lb/>
diese empor und leistet ihr Widerstand. Der Stat ohne Aristokratie ist<lb/>
ein Schiff ohne Steuer (?), ein Luftballon, von den Winden geschaukelt.<lb/>
Das Heilsame der Aristokratie aber, ihr Zauber liegt in ihrem Alter, in<lb/>
der Zeit; und gerade das ist das Einzige, was ich nicht schaffen kann.<lb/>
Die vernünftige Demokratie begnügt sich, für <hi rendition="#g">alle</hi> die Gleichheit des<lb/><hi rendition="#g">Strebens</hi> und die Erreichbarkeit des <hi rendition="#g">Zieles</hi> zu erhalten (à tous l'éga-<lb/>
lité pour prétendre et obtenir). Es kam nun darauf an, die Trümmer<lb/>
der Aristokratie mit den Formen und Intentionen der Demokratie zu<lb/>
versöhnen. Voraus galt es, die groszen alten Namen unserer Geschichte<lb/>
zu sammeln. &#x2014; Ich hatte in meiner Mappe einen Entwurf. Jeder Nach-<lb/>
komme eines gewesenen Marschalls oder Ministers wäre zu seiner Zeit<lb/>
fähig gewesen, indem er die erforderliche Ausstattung nachgewiesen,<lb/>
sich zum Herzog erklären zu lassen. Jeder Sohn eines Generals oder<lb/>
Statthalters einer Provinz hätte sich jeder Zeit als Graf können aner-<lb/>
kennen lassen und so weiter. Diese Einrichtung hätte die einen geför-<lb/>
dert, die Hoffnungen der andern aufrecht erhalten, den Wetteifer aller<lb/>
angeregt, und den Stolz niemandes verletzt.&#x201C; Vgl. auch V. 161 und</note></p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[152/0170] Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur. Gestalt auf der mit Trümmern bedeckten Ebene herzustellen. Aber keiner derselben gelangte zu festem Bestand. Am interessantesten ist der Versuch Napoleons, welcher in der Aristokratie eine unentbehrliche Stütze und zugleich eine Schranke der Monarchie erkannte. In dem Orden der Ehren- legion schuf er gewissermaszen einen modernen Ritter- adel, der jedem höhern Verdienste um den Stat im weitesten Sinne zugänglich, seinem Wesen nach aber nur eine indivi- duelle Ehrenauszeichnung war. Er hatte überdem vor, eine höhere erbliche Aristokratie zu gründen, in welcher die übrig gebliebenen Familien des alten historischen Adels mit den Nachkommen der neuen französischen Marschälle, Statsminister und anderer hohen Reichsbeamten und Würde- träger vereinigt worden wären. Man sieht, Napoleon dachte daran, die Institutionen der ersten römischen Kaiserzeit mit den Ueberlieferungen der französischen Geschichte zu combi- niren. Indessen hatte er kaum durch das Statut vom 1. März 1808 die ersten Anfänge zu dieser Erneuerung des Adels ge- legt, als sein eigener Sturz die Fortbildung unterbrach. 14 14 Napoleon im Mém. de St. Hel. bei Las Casas V. 36 ff.: „Die Aristokratie ist die Stütze und der Moderator der Monarchie, sie hebt diese empor und leistet ihr Widerstand. Der Stat ohne Aristokratie ist ein Schiff ohne Steuer (?), ein Luftballon, von den Winden geschaukelt. Das Heilsame der Aristokratie aber, ihr Zauber liegt in ihrem Alter, in der Zeit; und gerade das ist das Einzige, was ich nicht schaffen kann. Die vernünftige Demokratie begnügt sich, für alle die Gleichheit des Strebens und die Erreichbarkeit des Zieles zu erhalten (à tous l'éga- lité pour prétendre et obtenir). Es kam nun darauf an, die Trümmer der Aristokratie mit den Formen und Intentionen der Demokratie zu versöhnen. Voraus galt es, die groszen alten Namen unserer Geschichte zu sammeln. — Ich hatte in meiner Mappe einen Entwurf. Jeder Nach- komme eines gewesenen Marschalls oder Ministers wäre zu seiner Zeit fähig gewesen, indem er die erforderliche Ausstattung nachgewiesen, sich zum Herzog erklären zu lassen. Jeder Sohn eines Generals oder Statthalters einer Provinz hätte sich jeder Zeit als Graf können aner- kennen lassen und so weiter. Diese Einrichtung hätte die einen geför- dert, die Hoffnungen der andern aufrecht erhalten, den Wetteifer aller angeregt, und den Stolz niemandes verletzt.“ Vgl. auch V. 161 und

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/170
Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 152. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/170>, abgerufen am 25.11.2024.