Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

Bild:
<< vorherige Seite
Achtes Capitel V. Kasten. Stände. Classen. B. Die Stände.

Alle ihre Institutionen sind auf die Erhaltung der
Lebensordnung berechnet, keine haben den Fortschritt des
Lebens zum Zwecke. Die Ruhe ist ihr Ideal, die Bewegung
ihre Gefahr. Das Leben in ihr ist nur Wiederholung, nichts
Neues, ein Rad, das sich ewig in gleicher Weise und an der-
selben Stelle um dieselbe Achse dreht. Das Leben selbst hat
so wenig Werth; und wir begreifen es, wie zuletzt die bud-
dhistische Sehnsucht nach der Endigung dieses ewigen Einer-
leis, die Lehre von der Selbstauflösung in das Nichts, als der
wahren Befreiung aufkommen und zahlreiche Anhänger finden
konnte. Die indische Civilisation ist die Blüthe und die Frucht
der indischen Kastenordnung. Aber so fest diese begründet
war, sie vermochte jene Civilisation doch nicht auf die Dauer
vor dem innern Verfall zu bewahren, und die indische Selb-
ständigkeit nicht vor feindlicher Eroberung und Unterwerfung
zu schützen.

Der heutige indische Stat erträgt die noch vorhandenen
Reste der Kastenordnung nur wie ein ererbtes Leiden; er setzt
dieselbe nicht mehr als die wahre Weltordnung voraus und
erbaut von dem englischen Geiste bestimmt, seine Einrich-
tungen auf ein anderes Fundament.



Achtes Capitel.
B. Die Stände.

Ueberall unter den europäischen Völkern finden wir statt
der Kasten Stände. Wie jene sind auch diese eine organische
Gliederung und Ordnung der verschiedenen Bestandtheile eines
Volkes. Aber die Stände unterscheiden sich von den Kasten
dadurch, dasz sie sich der Bewegung der Geschichte hingeben
und eine Entwicklung haben. In Europa vorzüglich sind die

Bluntschli, allgemeine Statslehre. 9
Achtes Capitel V. Kasten. Stände. Classen. B. Die Stände.

Alle ihre Institutionen sind auf die Erhaltung der
Lebensordnung berechnet, keine haben den Fortschritt des
Lebens zum Zwecke. Die Ruhe ist ihr Ideal, die Bewegung
ihre Gefahr. Das Leben in ihr ist nur Wiederholung, nichts
Neues, ein Rad, das sich ewig in gleicher Weise und an der-
selben Stelle um dieselbe Achse dreht. Das Leben selbst hat
so wenig Werth; und wir begreifen es, wie zuletzt die bud-
dhistische Sehnsucht nach der Endigung dieses ewigen Einer-
leis, die Lehre von der Selbstauflösung in das Nichts, als der
wahren Befreiung aufkommen und zahlreiche Anhänger finden
konnte. Die indische Civilisation ist die Blüthe und die Frucht
der indischen Kastenordnung. Aber so fest diese begründet
war, sie vermochte jene Civilisation doch nicht auf die Dauer
vor dem innern Verfall zu bewahren, und die indische Selb-
ständigkeit nicht vor feindlicher Eroberung und Unterwerfung
zu schützen.

Der heutige indische Stat erträgt die noch vorhandenen
Reste der Kastenordnung nur wie ein ererbtes Leiden; er setzt
dieselbe nicht mehr als die wahre Weltordnung voraus und
erbaut von dem englischen Geiste bestimmt, seine Einrich-
tungen auf ein anderes Fundament.



Achtes Capitel.
B. Die Stände.

Ueberall unter den europäischen Völkern finden wir statt
der Kasten Stände. Wie jene sind auch diese eine organische
Gliederung und Ordnung der verschiedenen Bestandtheile eines
Volkes. Aber die Stände unterscheiden sich von den Kasten
dadurch, dasz sie sich der Bewegung der Geschichte hingeben
und eine Entwicklung haben. In Europa vorzüglich sind die

Bluntschli, allgemeine Statslehre. 9
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0147" n="129"/>
          <fw place="top" type="header">Achtes Capitel V. Kasten. Stände. Classen. B. Die Stände.</fw><lb/>
          <p>Alle ihre Institutionen sind auf die <hi rendition="#g">Erhaltung</hi> der<lb/>
Lebensordnung berechnet, keine haben den <hi rendition="#g">Fortschritt</hi> des<lb/>
Lebens zum Zwecke. Die Ruhe ist ihr Ideal, die Bewegung<lb/>
ihre Gefahr. Das Leben in ihr ist nur Wiederholung, nichts<lb/>
Neues, ein Rad, das sich ewig in gleicher Weise und an der-<lb/>
selben Stelle um dieselbe Achse dreht. Das Leben selbst hat<lb/>
so wenig Werth; und wir begreifen es, wie zuletzt die bud-<lb/>
dhistische Sehnsucht nach der Endigung dieses ewigen Einer-<lb/>
leis, die Lehre von der Selbstauflösung in das Nichts, als der<lb/>
wahren Befreiung aufkommen und zahlreiche Anhänger finden<lb/>
konnte. Die indische Civilisation ist die Blüthe und die Frucht<lb/>
der indischen Kastenordnung. Aber so fest diese begründet<lb/>
war, sie vermochte jene Civilisation doch nicht auf die Dauer<lb/>
vor dem innern Verfall zu bewahren, und die indische Selb-<lb/>
ständigkeit nicht vor feindlicher Eroberung und Unterwerfung<lb/>
zu schützen.</p><lb/>
          <p>Der heutige indische Stat erträgt die noch vorhandenen<lb/>
Reste der Kastenordnung nur wie ein ererbtes Leiden; er setzt<lb/>
dieselbe nicht mehr als die wahre Weltordnung voraus und<lb/>
erbaut von dem englischen Geiste bestimmt, seine Einrich-<lb/>
tungen auf ein anderes Fundament.</p>
        </div><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        <div n="2">
          <head>Achtes Capitel.<lb/><hi rendition="#b">B. Die Stände.</hi></head><lb/>
          <p>Ueberall unter den europäischen Völkern finden wir statt<lb/>
der Kasten <hi rendition="#g">Stände</hi>. Wie jene sind auch diese eine organische<lb/>
Gliederung und Ordnung der verschiedenen Bestandtheile eines<lb/>
Volkes. Aber die Stände unterscheiden sich von den Kasten<lb/>
dadurch, dasz sie sich der Bewegung der Geschichte hingeben<lb/>
und eine Entwicklung haben. In Europa vorzüglich sind die<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#g">Bluntschli</hi>, allgemeine Statslehre. 9</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[129/0147] Achtes Capitel V. Kasten. Stände. Classen. B. Die Stände. Alle ihre Institutionen sind auf die Erhaltung der Lebensordnung berechnet, keine haben den Fortschritt des Lebens zum Zwecke. Die Ruhe ist ihr Ideal, die Bewegung ihre Gefahr. Das Leben in ihr ist nur Wiederholung, nichts Neues, ein Rad, das sich ewig in gleicher Weise und an der- selben Stelle um dieselbe Achse dreht. Das Leben selbst hat so wenig Werth; und wir begreifen es, wie zuletzt die bud- dhistische Sehnsucht nach der Endigung dieses ewigen Einer- leis, die Lehre von der Selbstauflösung in das Nichts, als der wahren Befreiung aufkommen und zahlreiche Anhänger finden konnte. Die indische Civilisation ist die Blüthe und die Frucht der indischen Kastenordnung. Aber so fest diese begründet war, sie vermochte jene Civilisation doch nicht auf die Dauer vor dem innern Verfall zu bewahren, und die indische Selb- ständigkeit nicht vor feindlicher Eroberung und Unterwerfung zu schützen. Der heutige indische Stat erträgt die noch vorhandenen Reste der Kastenordnung nur wie ein ererbtes Leiden; er setzt dieselbe nicht mehr als die wahre Weltordnung voraus und erbaut von dem englischen Geiste bestimmt, seine Einrich- tungen auf ein anderes Fundament. Achtes Capitel. B. Die Stände. Ueberall unter den europäischen Völkern finden wir statt der Kasten Stände. Wie jene sind auch diese eine organische Gliederung und Ordnung der verschiedenen Bestandtheile eines Volkes. Aber die Stände unterscheiden sich von den Kasten dadurch, dasz sie sich der Bewegung der Geschichte hingeben und eine Entwicklung haben. In Europa vorzüglich sind die Bluntschli, allgemeine Statslehre. 9

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/147
Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 129. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/147>, abgerufen am 21.11.2024.