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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
autorität zu bedeuten, und wie können die statlichen Nöthigungs-
mittel wirken, wenn ihnen der Glaube der Regierten entgegen
steht, dasz der Gehorsam gegen die Statsgewalt auf Tausende
von Jahren Unglück und Leiden über den Folgsamen bringt?

Wohl gebührt dem Erbrecht im State eine hohe Be-
deutung. Es bewahrt den innern Zusammenhang zwischen
der Vergangenheit und der Zukunft, es befestigt die Stätig-
keit -- gleichsam den Knochenbau -- des über das Leben
der einzelnen Menschen hinausreichenden Statskörpers. Aber
wo es absolut und ausschlieszlich das öffentliche Recht be-
herrscht, da werden die beszten Kräfte gebunden und gelähmt.
Der Stat wird zuletzt zur Mumie, welche die Züge des ver-
gangenen Lebens künstlich zu erhalten sucht, aber nicht den
Ausdruck des Todes verbergen kann.

Die Kastenordnung verhärtet und potenzirt die Unter-
schiede
unter den Volksschichten. Eher noch können sich
in ihr die oberen aristokratischen Kasten befriedigt fühlen,
welche sie mit erblichen Vorrechten reichlich ausstattet. Um
so härter drückt sie die mittleren und untersten Schichten.
Sie brandmarkt die Zurücksetzung und Erniedrigung derselben
mit dem Mal der Verachtung und läszt dem Einzelnen keine
Hoffnung, aus den Banden frei zu werden, in denen sie ihn
gefangen hält. Sie steigert die Autorität der obern und sie
zerstört die Freiheit der untern Classen. Eine relative Voll-
kommenheit der einzelnen Berufszweige, selbst eine bewun-
dernswürdige Geistesthätigkeit der obersten Kreise ist mit ihr
wohl verträglich. Aber indem sie die Blutsüberlieferung und
die rassenmäszige Tradition zum obersten Gesetze macht, ver-
neint sie alle individuelle Freiheit, welche über die ererbten
Schranken hinausstrebt. Sie hat religiöse Einsiedler, grosze
Philosophen, ausgezeichnete Dichter, tapfere und groszherzige
Helden, treffliche Väter und Söhne, geschickte Arbeiter her-
vorgebracht, aber niemals grosze Statsmänner, und nirgends
hat sie freie Völker geduldet.


Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
autorität zu bedeuten, und wie können die statlichen Nöthigungs-
mittel wirken, wenn ihnen der Glaube der Regierten entgegen
steht, dasz der Gehorsam gegen die Statsgewalt auf Tausende
von Jahren Unglück und Leiden über den Folgsamen bringt?

Wohl gebührt dem Erbrecht im State eine hohe Be-
deutung. Es bewahrt den innern Zusammenhang zwischen
der Vergangenheit und der Zukunft, es befestigt die Stätig-
keit — gleichsam den Knochenbau — des über das Leben
der einzelnen Menschen hinausreichenden Statskörpers. Aber
wo es absolut und ausschlieszlich das öffentliche Recht be-
herrscht, da werden die beszten Kräfte gebunden und gelähmt.
Der Stat wird zuletzt zur Mumie, welche die Züge des ver-
gangenen Lebens künstlich zu erhalten sucht, aber nicht den
Ausdruck des Todes verbergen kann.

Die Kastenordnung verhärtet und potenzirt die Unter-
schiede
unter den Volksschichten. Eher noch können sich
in ihr die oberen aristokratischen Kasten befriedigt fühlen,
welche sie mit erblichen Vorrechten reichlich ausstattet. Um
so härter drückt sie die mittleren und untersten Schichten.
Sie brandmarkt die Zurücksetzung und Erniedrigung derselben
mit dem Mal der Verachtung und läszt dem Einzelnen keine
Hoffnung, aus den Banden frei zu werden, in denen sie ihn
gefangen hält. Sie steigert die Autorität der obern und sie
zerstört die Freiheit der untern Classen. Eine relative Voll-
kommenheit der einzelnen Berufszweige, selbst eine bewun-
dernswürdige Geistesthätigkeit der obersten Kreise ist mit ihr
wohl verträglich. Aber indem sie die Blutsüberlieferung und
die rassenmäszige Tradition zum obersten Gesetze macht, ver-
neint sie alle individuelle Freiheit, welche über die ererbten
Schranken hinausstrebt. Sie hat religiöse Einsiedler, grosze
Philosophen, ausgezeichnete Dichter, tapfere und groszherzige
Helden, treffliche Väter und Söhne, geschickte Arbeiter her-
vorgebracht, aber niemals grosze Statsmänner, und nirgends
hat sie freie Völker geduldet.


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[128/0146] Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur. autorität zu bedeuten, und wie können die statlichen Nöthigungs- mittel wirken, wenn ihnen der Glaube der Regierten entgegen steht, dasz der Gehorsam gegen die Statsgewalt auf Tausende von Jahren Unglück und Leiden über den Folgsamen bringt? Wohl gebührt dem Erbrecht im State eine hohe Be- deutung. Es bewahrt den innern Zusammenhang zwischen der Vergangenheit und der Zukunft, es befestigt die Stätig- keit — gleichsam den Knochenbau — des über das Leben der einzelnen Menschen hinausreichenden Statskörpers. Aber wo es absolut und ausschlieszlich das öffentliche Recht be- herrscht, da werden die beszten Kräfte gebunden und gelähmt. Der Stat wird zuletzt zur Mumie, welche die Züge des ver- gangenen Lebens künstlich zu erhalten sucht, aber nicht den Ausdruck des Todes verbergen kann. Die Kastenordnung verhärtet und potenzirt die Unter- schiede unter den Volksschichten. Eher noch können sich in ihr die oberen aristokratischen Kasten befriedigt fühlen, welche sie mit erblichen Vorrechten reichlich ausstattet. Um so härter drückt sie die mittleren und untersten Schichten. Sie brandmarkt die Zurücksetzung und Erniedrigung derselben mit dem Mal der Verachtung und läszt dem Einzelnen keine Hoffnung, aus den Banden frei zu werden, in denen sie ihn gefangen hält. Sie steigert die Autorität der obern und sie zerstört die Freiheit der untern Classen. Eine relative Voll- kommenheit der einzelnen Berufszweige, selbst eine bewun- dernswürdige Geistesthätigkeit der obersten Kreise ist mit ihr wohl verträglich. Aber indem sie die Blutsüberlieferung und die rassenmäszige Tradition zum obersten Gesetze macht, ver- neint sie alle individuelle Freiheit, welche über die ererbten Schranken hinausstrebt. Sie hat religiöse Einsiedler, grosze Philosophen, ausgezeichnete Dichter, tapfere und groszherzige Helden, treffliche Väter und Söhne, geschickte Arbeiter her- vorgebracht, aber niemals grosze Statsmänner, und nirgends hat sie freie Völker geduldet.

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 128. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/146>, abgerufen am 21.11.2024.