Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
höhere Frau den niedrigeren Mann. Aus den zahlreichen Miszheirathen sind denn aber im Laufe der Zeit arge Misz- stände und neue wieder erbliche Miszkasten der Verworfenen und Ausgestoszenen erwachsen. Der Uebergang eines Indivi- duums aus einer Kaste in die andere ist nur in äuszerst sel- tenen Fällen möglich, die starre Abgeschlossenheit durchaus die Regel. Sogar nach dem Tode wirkt die Kastenordnung fort. Sie beherrscht ebenso das zukünftige Leben wie die Gegenwart, und nur mit viel tausendjähriger Anstrengung kann es in seltensten Fällen sogar einem Kshatriya gelingen, bis auf die göttlichste Stufe des Brahmanenthums sich empor- zuschwingen. Jeder Fehltritt aber stürzt leicht aus der Höhe in die Tiefe und dann ist die Wiedererhebung unsäglich schwer.
Wir wissen nun, dasz jener Glaube der Indier auf Irr- thum beruht und dasz diese Kastenbildung groszentheils ein Werk menschlicher Geschichte ist. In den Veden noch ist die Erinnerung an eine ältere Periode erhalten, in der es wohl arische Stände, aber noch nicht indische Kasten gegeben hatte. Nur der Gegensatz der drei oberen Kasten, die sämmtlich Arier heiszen, zu den Sudras läszt sich auf einen ursprüng- lichen Rassengegensatz zweier Völkermassen zurück führen, indem die weissen Arier als Sieger das Land der dunkelfarbigen Sudras eingenommen und sich da als Herren derselben nieder- gelassen haben, ähnlich wie die weiszen europäischen Colonisten unter der rothen Urbevölkerung in Amerika. Der alte Name der Kaste "Varna" bedeutet Farbe und beurkundet so den ursprünglichen Gegensatz der Weiszen und der Farbigen. Je höher die Kaste, desto reiner erscheint die weisze Rasse, je tiefer, desto mehr ist sie gemischt mit dem Blut der ursprüng- lich schwarzen Rasse. 2Die beiden obern Kasten erheben sich
2 Vgl. über die Geschichte und das Wesen der indischen Kasten Lassen Indische Alterthumskunde I. S. 801 ff., Gobineau de l'ine galite des races humaines II. S. 135, Benfey Act. Indien in dem Wörterbuch von Guttrie u. Grey, M. Duncker Geschichte d. Alterthums II. S. 12 f.
Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
höhere Frau den niedrigeren Mann. Aus den zahlreichen Miszheirathen sind denn aber im Laufe der Zeit arge Misz- stände und neue wieder erbliche Miszkasten der Verworfenen und Ausgestoszenen erwachsen. Der Uebergang eines Indivi- duums aus einer Kaste in die andere ist nur in äuszerst sel- tenen Fällen möglich, die starre Abgeschlossenheit durchaus die Regel. Sogar nach dem Tode wirkt die Kastenordnung fort. Sie beherrscht ebenso das zukünftige Leben wie die Gegenwart, und nur mit viel tausendjähriger Anstrengung kann es in seltensten Fällen sogar einem Kshatriya gelingen, bis auf die göttlichste Stufe des Brahmanenthums sich empor- zuschwingen. Jeder Fehltritt aber stürzt leicht aus der Höhe in die Tiefe und dann ist die Wiedererhebung unsäglich schwer.
Wir wissen nun, dasz jener Glaube der Indier auf Irr- thum beruht und dasz diese Kastenbildung groszentheils ein Werk menschlicher Geschichte ist. In den Veden noch ist die Erinnerung an eine ältere Periode erhalten, in der es wohl arische Stände, aber noch nicht indische Kasten gegeben hatte. Nur der Gegensatz der drei oberen Kasten, die sämmtlich Arier heiszen, zu den Sudras läszt sich auf einen ursprüng- lichen Rassengegensatz zweier Völkermassen zurück führen, indem die weissen Arier als Sieger das Land der dunkelfarbigen Sudras eingenommen und sich da als Herren derselben nieder- gelassen haben, ähnlich wie die weiszen europäischen Colonisten unter der rothen Urbevölkerung in Amerika. Der alte Name der Kaste „Varna“ bedeutet Farbe und beurkundet so den ursprünglichen Gegensatz der Weiszen und der Farbigen. Je höher die Kaste, desto reiner erscheint die weisze Rasse, je tiefer, desto mehr ist sie gemischt mit dem Blut der ursprüng- lich schwarzen Rasse. 2Die beiden obern Kasten erheben sich
2 Vgl. über die Geschichte und das Wesen der indischen Kasten Lassen Indische Alterthumskunde I. S. 801 ff., Gobineau de l'iné galité des races humaines II. S. 135, Benfey Act. Indien in dem Wörterbuch von Guttrie u. Grey, M. Duncker Geschichte d. Alterthums II. S. 12 f.
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Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u.
Volksnatur.
höhere Frau den niedrigeren Mann. Aus den zahlreichen
Miszheirathen sind denn aber im Laufe der Zeit arge Misz-
stände und neue wieder erbliche Miszkasten der Verworfenen
und Ausgestoszenen erwachsen. Der Uebergang eines Indivi-
duums aus einer Kaste in die andere ist nur in äuszerst sel-
tenen Fällen möglich, die starre Abgeschlossenheit durchaus
die Regel. Sogar nach dem Tode wirkt die Kastenordnung
fort. Sie beherrscht ebenso das zukünftige Leben wie die
Gegenwart, und nur mit viel tausendjähriger Anstrengung
kann es in seltensten Fällen sogar einem Kshatriya gelingen,
bis auf die göttlichste Stufe des Brahmanenthums sich empor-
zuschwingen. Jeder Fehltritt aber stürzt leicht aus der Höhe
in die Tiefe und dann ist die Wiedererhebung unsäglich schwer.
Wir wissen nun, dasz jener Glaube der Indier auf Irr-
thum beruht und dasz diese Kastenbildung groszentheils ein
Werk menschlicher Geschichte ist. In den Veden noch ist
die Erinnerung an eine ältere Periode erhalten, in der es wohl
arische Stände, aber noch nicht indische Kasten gegeben hatte.
Nur der Gegensatz der drei oberen Kasten, die sämmtlich
Arier heiszen, zu den Sudras läszt sich auf einen ursprüng-
lichen Rassengegensatz zweier Völkermassen zurück führen,
indem die weissen Arier als Sieger das Land der dunkelfarbigen
Sudras eingenommen und sich da als Herren derselben nieder-
gelassen haben, ähnlich wie die weiszen europäischen Colonisten
unter der rothen Urbevölkerung in Amerika. Der alte Name
der Kaste „Varna“ bedeutet Farbe und beurkundet so den
ursprünglichen Gegensatz der Weiszen und der Farbigen. Je
höher die Kaste, desto reiner erscheint die weisze Rasse, je
tiefer, desto mehr ist sie gemischt mit dem Blut der ursprüng-
lich schwarzen Rasse. 2Die beiden obern Kasten erheben sich
2 Vgl. über die Geschichte und das
Wesen der indischen Kasten
Lassen Indische Alterthumskunde I. S. 801 ff.,
Gobineau de l'iné galité
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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 126. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/144>, abgerufen am 16.02.2025.
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