Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

Bild:
<< vorherige Seite

Siebentes Capitel. V. Kasten. Stände. Classen. A. Die Kasten.
arische Blut am reinsten, obwohl auch da nicht völlig unver-
mischt mit andern Bestandtheilen erhalten blieb, ging nach
dem indischen Mythus aus dem Munde Gottes hervor. Sie
sind daher auch gleichsam das lebendige Wort Gottes, der
reinste und vollste Ausdruck des göttlichen Wesens. Ihnen
gebührt die Pflege der Wissenschaft und der Religion. Ihrer
Kunde und Sorge ist vornehmlich das Recht anvertraut. Der
geringste Brahmane ist als solcher höher zu achten als der
König. Sie sind vorzugsweise von göttlicher Natur, und wenn
ihnen auch nicht untersagt ist, sich mit weltlichen Aemtern
zu befassen und in irdische Geschäfte sich zu mischen, so
erhöht doch die Enthaltsamkeit von jedem materiellen Genusz
ihre Reinheit. 1 Wer einen Brahmanen mit einem Grashalm
schlägt, verfällt der Verdammnisz der Hölle.

Die zweite Kaste, die Kshatryias, aus denen der König
hervorgeht, sind von dem Arme Gottes geschaffen. In ihnen
ist die Kraft und die äuszere Macht verleiblicht. Sie sind
die geborne Krieger- und Adelskaste. Handel zu treiben sind
sie zwar nicht verhindert, aber die Waffenübung ist doch ihrer
würdiger.

Die dritte Kaste, die Visas oder Visayas, sind aus den
Schenkeln Gottes geboren. Ihnen kommen die edlern bürger-
lichen Gewerbe zu. Sie sind berufen, Viehzucht, Ackerbau
und Handel zu betreiben.

Die vierte dunkelste Kaste endlich, die Sudras, stam-
men aus den Füszen Gottes. Sie sind die dienende Bevöl-
kerung. Den materiellen Bedürfnissen des Lebens geweiht,
sind sie nicht würdig die heiligen Bücher zu lesen.

Die höhere Ehe setzt Ebenbürtigkeit der Ehegatten vor-
aus; indessen kann ein Mann von höherer Kaste wohl eine
Frau aus einer niedern heirathen, nicht aber umgekehrt die

1 Gesetze Manu's II. 162. (herausg. v. A. Loiseleur Deslongschamps.
Paris 1833): "Ein Brahmane soll weltliche Ehre wie Gift scheuen und
sich nach Verachtung der Menschen sehnen wie nach Ambrosia."

Siebentes Capitel. V. Kasten. Stände. Classen. A. Die Kasten.
arische Blut am reinsten, obwohl auch da nicht völlig unver-
mischt mit andern Bestandtheilen erhalten blieb, ging nach
dem indischen Mythus aus dem Munde Gottes hervor. Sie
sind daher auch gleichsam das lebendige Wort Gottes, der
reinste und vollste Ausdruck des göttlichen Wesens. Ihnen
gebührt die Pflege der Wissenschaft und der Religion. Ihrer
Kunde und Sorge ist vornehmlich das Recht anvertraut. Der
geringste Brahmane ist als solcher höher zu achten als der
König. Sie sind vorzugsweise von göttlicher Natur, und wenn
ihnen auch nicht untersagt ist, sich mit weltlichen Aemtern
zu befassen und in irdische Geschäfte sich zu mischen, so
erhöht doch die Enthaltsamkeit von jedem materiellen Genusz
ihre Reinheit. 1 Wer einen Brahmanen mit einem Grashalm
schlägt, verfällt der Verdammnisz der Hölle.

Die zweite Kaste, die Kshatryias, aus denen der König
hervorgeht, sind von dem Arme Gottes geschaffen. In ihnen
ist die Kraft und die äuszere Macht verleiblicht. Sie sind
die geborne Krieger- und Adelskaste. Handel zu treiben sind
sie zwar nicht verhindert, aber die Waffenübung ist doch ihrer
würdiger.

Die dritte Kaste, die Visas oder Visayas, sind aus den
Schenkeln Gottes geboren. Ihnen kommen die edlern bürger-
lichen Gewerbe zu. Sie sind berufen, Viehzucht, Ackerbau
und Handel zu betreiben.

Die vierte dunkelste Kaste endlich, die Sudras, stam-
men aus den Füszen Gottes. Sie sind die dienende Bevöl-
kerung. Den materiellen Bedürfnissen des Lebens geweiht,
sind sie nicht würdig die heiligen Bücher zu lesen.

Die höhere Ehe setzt Ebenbürtigkeit der Ehegatten vor-
aus; indessen kann ein Mann von höherer Kaste wohl eine
Frau aus einer niedern heirathen, nicht aber umgekehrt die

1 Gesetze Manu's II. 162. (herausg. v. A. Loiseleur Deslongschamps.
Paris 1833): „Ein Brahmane soll weltliche Ehre wie Gift scheuen und
sich nach Verachtung der Menschen sehnen wie nach Ambrosia.“
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0143" n="125"/><fw place="top" type="header">Siebentes Capitel. V. Kasten. Stände. Classen. A. Die Kasten.</fw><lb/>
arische Blut am reinsten, obwohl auch da nicht völlig unver-<lb/>
mischt mit andern Bestandtheilen erhalten blieb, ging nach<lb/>
dem indischen Mythus aus dem Munde Gottes hervor. Sie<lb/>
sind daher auch gleichsam das lebendige Wort Gottes, der<lb/>
reinste und vollste Ausdruck des göttlichen Wesens. Ihnen<lb/>
gebührt die Pflege der Wissenschaft und der Religion. Ihrer<lb/>
Kunde und Sorge ist vornehmlich das Recht anvertraut. Der<lb/>
geringste Brahmane ist als solcher höher zu achten als der<lb/>
König. Sie sind vorzugsweise von göttlicher Natur, und wenn<lb/>
ihnen auch nicht untersagt ist, sich mit weltlichen Aemtern<lb/>
zu befassen und in irdische Geschäfte sich zu mischen, so<lb/>
erhöht doch die Enthaltsamkeit von jedem materiellen Genusz<lb/>
ihre Reinheit. <note place="foot" n="1">Gesetze <hi rendition="#g">Manu's</hi> II. 162. (herausg. v. A. Loiseleur Deslongschamps.<lb/>
Paris 1833): &#x201E;Ein Brahmane soll weltliche Ehre wie Gift scheuen und<lb/>
sich nach Verachtung der Menschen sehnen wie nach Ambrosia.&#x201C;</note> Wer einen Brahmanen mit einem Grashalm<lb/>
schlägt, verfällt der Verdammnisz der Hölle.</p><lb/>
          <p>Die zweite Kaste, die <hi rendition="#g">Kshatryias</hi>, aus denen der König<lb/>
hervorgeht, sind von dem Arme Gottes geschaffen. In ihnen<lb/>
ist die Kraft und die äuszere Macht verleiblicht. Sie sind<lb/>
die geborne Krieger- und Adelskaste. Handel zu treiben sind<lb/>
sie zwar nicht verhindert, aber die Waffenübung ist doch ihrer<lb/>
würdiger.</p><lb/>
          <p>Die dritte Kaste, die <hi rendition="#g">Visas</hi> oder <hi rendition="#g">Visayas</hi>, sind aus den<lb/>
Schenkeln Gottes geboren. Ihnen kommen die edlern bürger-<lb/>
lichen Gewerbe zu. Sie sind berufen, Viehzucht, Ackerbau<lb/>
und Handel zu betreiben.</p><lb/>
          <p>Die vierte dunkelste Kaste endlich, die <hi rendition="#g">Sudras</hi>, stam-<lb/>
men aus den Füszen Gottes. Sie sind die <hi rendition="#g">dienende</hi> Bevöl-<lb/>
kerung. Den materiellen Bedürfnissen des Lebens geweiht,<lb/>
sind sie nicht würdig die heiligen Bücher zu lesen.</p><lb/>
          <p>Die höhere Ehe setzt Ebenbürtigkeit der Ehegatten vor-<lb/>
aus; indessen kann ein Mann von höherer Kaste wohl eine<lb/>
Frau aus einer niedern heirathen, nicht aber umgekehrt die<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[125/0143] Siebentes Capitel. V. Kasten. Stände. Classen. A. Die Kasten. arische Blut am reinsten, obwohl auch da nicht völlig unver- mischt mit andern Bestandtheilen erhalten blieb, ging nach dem indischen Mythus aus dem Munde Gottes hervor. Sie sind daher auch gleichsam das lebendige Wort Gottes, der reinste und vollste Ausdruck des göttlichen Wesens. Ihnen gebührt die Pflege der Wissenschaft und der Religion. Ihrer Kunde und Sorge ist vornehmlich das Recht anvertraut. Der geringste Brahmane ist als solcher höher zu achten als der König. Sie sind vorzugsweise von göttlicher Natur, und wenn ihnen auch nicht untersagt ist, sich mit weltlichen Aemtern zu befassen und in irdische Geschäfte sich zu mischen, so erhöht doch die Enthaltsamkeit von jedem materiellen Genusz ihre Reinheit. 1 Wer einen Brahmanen mit einem Grashalm schlägt, verfällt der Verdammnisz der Hölle. Die zweite Kaste, die Kshatryias, aus denen der König hervorgeht, sind von dem Arme Gottes geschaffen. In ihnen ist die Kraft und die äuszere Macht verleiblicht. Sie sind die geborne Krieger- und Adelskaste. Handel zu treiben sind sie zwar nicht verhindert, aber die Waffenübung ist doch ihrer würdiger. Die dritte Kaste, die Visas oder Visayas, sind aus den Schenkeln Gottes geboren. Ihnen kommen die edlern bürger- lichen Gewerbe zu. Sie sind berufen, Viehzucht, Ackerbau und Handel zu betreiben. Die vierte dunkelste Kaste endlich, die Sudras, stam- men aus den Füszen Gottes. Sie sind die dienende Bevöl- kerung. Den materiellen Bedürfnissen des Lebens geweiht, sind sie nicht würdig die heiligen Bücher zu lesen. Die höhere Ehe setzt Ebenbürtigkeit der Ehegatten vor- aus; indessen kann ein Mann von höherer Kaste wohl eine Frau aus einer niedern heirathen, nicht aber umgekehrt die 1 Gesetze Manu's II. 162. (herausg. v. A. Loiseleur Deslongschamps. Paris 1833): „Ein Brahmane soll weltliche Ehre wie Gift scheuen und sich nach Verachtung der Menschen sehnen wie nach Ambrosia.“

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/143
Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 125. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/143>, abgerufen am 23.11.2024.