Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 2. Stuttgart, 1898.Einundzwanzigstes Kapitel: Der Norddeutsche Bund. Bahnen, in denen sie einer unbekannten Zukunft entgegenlaufen,nicht geglättete Eisenschienen haben. Jedes große staatliche Ge¬ meinwesen, in welchem der vorsichtige und hemmende Einfluß der Besitzenden, materiellen oder intelligenten Ursprungs, verloren geht, wird immer in eine der Entwicklung der ersten französischen Revolution ähnliche, den Staatswagen zerbrechende Geschwindigkeit gerathen. Das begehrliche Element hat das auf die Dauer durchschlagende Uebergewicht der größern Masse. Es ist im Interesse dieser Masse selbst zu wünschen, daß dieser Durch¬ schlag ohne gefährliche Beschleunigung und ohne Zertrümmerung des Staatswagens erfolge. Geschieht die letztre dennoch, so wird der geschichtliche Kreislauf immer in verhältnißmäßig kurzer Zeit zur Dictatur, zur Gewaltherrschaft, zum Absolutismus zurück¬ führen, weil auch die Massen schließlich dem Ordnungsbedürfniß unterliegen, und wenn sie es a priori nicht erkennen, so sehn sie es infolge mannigfaltiger Argumente ad hominem schließlich immer wieder ein und erkaufen die Ordnung von Dictatur und Cäsarismus durch bereitwilliges Aufopfern auch des berechtigten und festzuhaltenden Maßes von Freiheit, das europäische staatliche Gesellschaften vertragen, ohne zu erkranken. Ich würde es für ein erhebliches Unglück und für eine wesent¬ Einundzwanzigſtes Kapitel: Der Norddeutſche Bund. Bahnen, in denen ſie einer unbekannten Zukunft entgegenlaufen,nicht geglättete Eiſenſchienen haben. Jedes große ſtaatliche Ge¬ meinweſen, in welchem der vorſichtige und hemmende Einfluß der Beſitzenden, materiellen oder intelligenten Urſprungs, verloren geht, wird immer in eine der Entwicklung der erſten franzöſiſchen Revolution ähnliche, den Staatswagen zerbrechende Geſchwindigkeit gerathen. Das begehrliche Element hat das auf die Dauer durchſchlagende Uebergewicht der größern Maſſe. Es iſt im Intereſſe dieſer Maſſe ſelbſt zu wünſchen, daß dieſer Durch¬ ſchlag ohne gefährliche Beſchleunigung und ohne Zertrümmerung des Staatswagens erfolge. Geſchieht die letztre dennoch, ſo wird der geſchichtliche Kreislauf immer in verhältnißmäßig kurzer Zeit zur Dictatur, zur Gewaltherrſchaft, zum Abſolutismus zurück¬ führen, weil auch die Maſſen ſchließlich dem Ordnungsbedürfniß unterliegen, und wenn ſie es a priori nicht erkennen, ſo ſehn ſie es infolge mannigfaltiger Argumente ad hominem ſchließlich immer wieder ein und erkaufen die Ordnung von Dictatur und Cäſarismus durch bereitwilliges Aufopfern auch des berechtigten und feſtzuhaltenden Maßes von Freiheit, das europäiſche ſtaatliche Geſellſchaften vertragen, ohne zu erkranken. Ich würde es für ein erhebliches Unglück und für eine weſent¬ <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0084" n="60"/><fw place="top" type="header">Einundzwanzigſtes Kapitel: Der Norddeutſche Bund.<lb/></fw>Bahnen, in denen ſie einer unbekannten Zukunft entgegenlaufen,<lb/> nicht geglättete Eiſenſchienen haben. 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Der Abſolutismus wäre die ideale Verfaſſung für<lb/> europäiſche Staatsgebilde, wenn der König und ſeine Beamten<lb/> nicht Menſchen blieben wie jeder Andre, denen es nicht gegeben<lb/> iſt, mit übermenſchlicher Sachkunde, Einſicht und Gerechtigkeit zu<lb/> regiren. Die einſichtigſten und wohlwollendſten abſoluten Regenten<lb/> unterliegen den menſchlichen Schwächen und Unvollkommenheiten,<lb/> wie der Ueberſchätzung der eignen Einſicht, dem Einfluß und der<lb/> Beredſamkeit von Günſtlingen, ohne von weiblichen, legitimen<lb/> und illegitimen Einflüſſen zu reden. Die Monarchie und der<lb/> idealſte Monarch, wenn er nicht in ſeinem Idealismus gemein¬<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [60/0084]
Einundzwanzigſtes Kapitel: Der Norddeutſche Bund.
Bahnen, in denen ſie einer unbekannten Zukunft entgegenlaufen,
nicht geglättete Eiſenſchienen haben. Jedes große ſtaatliche Ge¬
meinweſen, in welchem der vorſichtige und hemmende Einfluß
der Beſitzenden, materiellen oder intelligenten Urſprungs, verloren
geht, wird immer in eine der Entwicklung der erſten franzöſiſchen
Revolution ähnliche, den Staatswagen zerbrechende Geſchwindigkeit
gerathen. Das begehrliche Element hat das auf die Dauer
durchſchlagende Uebergewicht der größern Maſſe. Es iſt im
Intereſſe dieſer Maſſe ſelbſt zu wünſchen, daß dieſer Durch¬
ſchlag ohne gefährliche Beſchleunigung und ohne Zertrümmerung
des Staatswagens erfolge. Geſchieht die letztre dennoch, ſo wird
der geſchichtliche Kreislauf immer in verhältnißmäßig kurzer
Zeit zur Dictatur, zur Gewaltherrſchaft, zum Abſolutismus zurück¬
führen, weil auch die Maſſen ſchließlich dem Ordnungsbedürfniß
unterliegen, und wenn ſie es a priori nicht erkennen, ſo ſehn ſie
es infolge mannigfaltiger Argumente ad hominem ſchließlich
immer wieder ein und erkaufen die Ordnung von Dictatur und
Cäſarismus durch bereitwilliges Aufopfern auch des berechtigten
und feſtzuhaltenden Maßes von Freiheit, das europäiſche ſtaatliche
Geſellſchaften vertragen, ohne zu erkranken.
Ich würde es für ein erhebliches Unglück und für eine weſent¬
liche Verminderung der Sicherheit der Zukunft anſehn, wenn wir
auch in Deutſchland in den Wirbel dieſes franzöſiſchen Kreislaufes
geriethen. Der Abſolutismus wäre die ideale Verfaſſung für
europäiſche Staatsgebilde, wenn der König und ſeine Beamten
nicht Menſchen blieben wie jeder Andre, denen es nicht gegeben
iſt, mit übermenſchlicher Sachkunde, Einſicht und Gerechtigkeit zu
regiren. Die einſichtigſten und wohlwollendſten abſoluten Regenten
unterliegen den menſchlichen Schwächen und Unvollkommenheiten,
wie der Ueberſchätzung der eignen Einſicht, dem Einfluß und der
Beredſamkeit von Günſtlingen, ohne von weiblichen, legitimen
und illegitimen Einflüſſen zu reden. Die Monarchie und der
idealſte Monarch, wenn er nicht in ſeinem Idealismus gemein¬
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