Es leuchtet ein, daß eine Aenderung der bisherigen Verhält¬ nisse, infolge deren die bisher dem Kanzler zugeschriebene Ver¬ antwortlichkeit auf die Anordnungen der kaiserlichen Executiv-Gewalt beschränkt und ihm die Befugniß, geschweige denn die Verpflichtung, im Reichstage zu erscheinen und zu discutiren, entzogen würde, nicht eine nur formelle sein, sondern auch die Schwerkraft der Fac¬ toren unsres öffentlichen Lebens wesentlich verändern würde. Ich habe mir die Frage, ob es sich empföhle, derartigen Eventualitäten näher zu treten, vorgelegt zu der Zeit, als ich mich im December 1884 einer Reichstagsmehrheit gegenüber fand, die sich aus einer Coalition der verschiedenartigsten Elemente zusammensetzte, aus der Socialdemokratie, den Polen, Welfen, Franzosenfreunden aus dem Elsaß, den freisinnigen Krypto-Republikanern und gelegentlich aus mißgünstigen Conservativen am Hofe, im Parlamente und in der Presse -- der Coalition, die zum Beispiel die Geldbewilligung für einen zweiten Director im Auswärtigen Amt ablehnte. Die Unter¬ stützung, die ich dieser Opposition gegenüber am Hofe, im Parla¬ mente und außerhalb desselben fand, war keine unbedingte, und nicht frei von der Mitwirkung mißgünstiger und rivalisirender Streber. Ich habe damals die Frage Jahre hindurch mit wechselnder Ansicht über ihre Dringlichkeit bei mir und mit Andern erwogen, ob das Maß nationaler Einheit, welches wir gewonnen hatten, zu seiner Sicherstellung nicht einer andern Form bedürfe, als der zur Zeit gültigen, die aus der Vergangenheit überliefert und durch die Ereignisse und durch Compromisse mit Regirungen und Parla¬ menten entwickelt war. Ich habe in jener Zeit, wie ich glaube, auch in öffentlichen Reden angedeutet, daß der König von Preußen, wenn ihm der Reichstag die kaiserliche Wirksamkeit über die Grenzen der Möglichkeit monarchischer Einrichtungen erschwere, sich zu einer stärkern Anlehnung an die Unterlagen veranlaßt sehn könne, welche die preußische Krone und Verfassung ihm gewähre1). Ich hatte bei
1) Vgl. Pol. Reden XI 468.
Dreiunddreißigſtes Kapitel: Kaiſer Friedrich III.
Es leuchtet ein, daß eine Aenderung der bisherigen Verhält¬ niſſe, infolge deren die bisher dem Kanzler zugeſchriebene Ver¬ antwortlichkeit auf die Anordnungen der kaiſerlichen Executiv-Gewalt beſchränkt und ihm die Befugniß, geſchweige denn die Verpflichtung, im Reichstage zu erſcheinen und zu diſcutiren, entzogen würde, nicht eine nur formelle ſein, ſondern auch die Schwerkraft der Fac¬ toren unſres öffentlichen Lebens weſentlich verändern würde. Ich habe mir die Frage, ob es ſich empföhle, derartigen Eventualitäten näher zu treten, vorgelegt zu der Zeit, als ich mich im December 1884 einer Reichstagsmehrheit gegenüber fand, die ſich aus einer Coalition der verſchiedenartigſten Elemente zuſammenſetzte, aus der Socialdemokratie, den Polen, Welfen, Franzoſenfreunden aus dem Elſaß, den freiſinnigen Krypto-Republikanern und gelegentlich aus mißgünſtigen Conſervativen am Hofe, im Parlamente und in der Preſſe — der Coalition, die zum Beiſpiel die Geldbewilligung für einen zweiten Director im Auswärtigen Amt ablehnte. Die Unter¬ ſtützung, die ich dieſer Oppoſition gegenüber am Hofe, im Parla¬ mente und außerhalb deſſelben fand, war keine unbedingte, und nicht frei von der Mitwirkung mißgünſtiger und rivaliſirender Streber. Ich habe damals die Frage Jahre hindurch mit wechſelnder Anſicht über ihre Dringlichkeit bei mir und mit Andern erwogen, ob das Maß nationaler Einheit, welches wir gewonnen hatten, zu ſeiner Sicherſtellung nicht einer andern Form bedürfe, als der zur Zeit gültigen, die aus der Vergangenheit überliefert und durch die Ereigniſſe und durch Compromiſſe mit Regirungen und Parla¬ menten entwickelt war. Ich habe in jener Zeit, wie ich glaube, auch in öffentlichen Reden angedeutet, daß der König von Preußen, wenn ihm der Reichstag die kaiſerliche Wirkſamkeit über die Grenzen der Möglichkeit monarchiſcher Einrichtungen erſchwere, ſich zu einer ſtärkern Anlehnung an die Unterlagen veranlaßt ſehn könne, welche die preußiſche Krone und Verfaſſung ihm gewähre1). Ich hatte bei
1) Vgl. Pol. Reden XI 468.
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Dreiunddreißigſtes Kapitel: Kaiſer Friedrich III.
Es leuchtet ein, daß eine Aenderung der bisherigen Verhält¬
niſſe, infolge deren die bisher dem Kanzler zugeſchriebene Ver¬
antwortlichkeit auf die Anordnungen der kaiſerlichen Executiv-Gewalt
beſchränkt und ihm die Befugniß, geſchweige denn die Verpflichtung,
im Reichstage zu erſcheinen und zu diſcutiren, entzogen würde,
nicht eine nur formelle ſein, ſondern auch die Schwerkraft der Fac¬
toren unſres öffentlichen Lebens weſentlich verändern würde. Ich
habe mir die Frage, ob es ſich empföhle, derartigen Eventualitäten
näher zu treten, vorgelegt zu der Zeit, als ich mich im December
1884 einer Reichstagsmehrheit gegenüber fand, die ſich aus einer
Coalition der verſchiedenartigſten Elemente zuſammenſetzte, aus der
Socialdemokratie, den Polen, Welfen, Franzoſenfreunden aus dem
Elſaß, den freiſinnigen Krypto-Republikanern und gelegentlich aus
mißgünſtigen Conſervativen am Hofe, im Parlamente und in der
Preſſe — der Coalition, die zum Beiſpiel die Geldbewilligung für
einen zweiten Director im Auswärtigen Amt ablehnte. Die Unter¬
ſtützung, die ich dieſer Oppoſition gegenüber am Hofe, im Parla¬
mente und außerhalb deſſelben fand, war keine unbedingte, und
nicht frei von der Mitwirkung mißgünſtiger und rivaliſirender
Streber. Ich habe damals die Frage Jahre hindurch mit wechſelnder
Anſicht über ihre Dringlichkeit bei mir und mit Andern erwogen,
ob das Maß nationaler Einheit, welches wir gewonnen hatten, zu
ſeiner Sicherſtellung nicht einer andern Form bedürfe, als der zur
Zeit gültigen, die aus der Vergangenheit überliefert und durch die
Ereigniſſe und durch Compromiſſe mit Regirungen und Parla¬
menten entwickelt war. Ich habe in jener Zeit, wie ich glaube,
auch in öffentlichen Reden angedeutet, daß der König von Preußen,
wenn ihm der Reichstag die kaiſerliche Wirkſamkeit über die Grenzen
der Möglichkeit monarchiſcher Einrichtungen erſchwere, ſich zu einer
ſtärkern Anlehnung an die Unterlagen veranlaßt ſehn könne, welche
die preußiſche Krone und Verfaſſung ihm gewähre 1). Ich hatte bei
1) Vgl. Pol. Reden XI 468.
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Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 2. Stuttgart, 1898, S. 308. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen02_1898/332>, abgerufen am 24.11.2024.
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