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Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 2. Stuttgart, 1898.

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Rußlands "Befreiungs"-Politik.
populär gemachten Ypsilanti'schen Aufstandes, des durch die Fa¬
narioten vermittelten Ausläufers gräcisirender Orientpolitik, noch die
einheitliche Zustimmung der verschiedenen russischen Strömungen
hatten, die von Araktschejew bis zu den Decabristen durch einander
liefen, ist gleichgültig, jedenfalls aber waren die Erstlinge der russi¬
schen Befreiungspolitik, die Griechen, eine, freilich noch nicht durch¬
schlagende, Enttäuschung für Rußland. Die griechische Befreiungs¬
politik hört mit und seit Navarin auch in den Augen der Russen
auf, eine russische Specialität zu sein. Es hat lange gedauert, ehe
das russische Cabinet aus diesem kritischen Ergebniß die Consequenzen
zog. Die rudis indigestaque moles Rußland wiegt zu schwer, um
für jede Wahrnehmung des politischen Instincts leicht lenksam zu
sein. Man fuhr fort zu befreien und machte mit den Rumänen,
Serben, Bulgaren dieselbe Erfahrung wie mit den Griechen. Alle
diese Stämme haben Rußlands Hülfe zur Befreiung von den
Türken bereitwillig angenommen, aber, nachdem sie frei geworden,
keine Neigung gezeigt, den Zaren zum Nachfolger des Sultans
anzunehmen. Ich weiß nicht, ob man in Petersburg die Ueber¬
zeugung theilt, daß auch der "einzige Freund" des Zaren, der
Fürst von Montenegro, was bei seiner entfernten und isolirten
Situation auch einigermaßen entschuldbar ist, nur so lange die
russische Flagge hissen wird, als er Aequivalente an Geld oder
Macht dafür erwartet; aber es kann in Petersburg nicht unbekannt
sein, daß der Vladika bereit war, und vielleicht noch bereit ist, als
großherrlich türkischer Connetable an die Spitze der Balkanvölker
zu treten, wenn dieser Gedanke bei der Pforte eine hinreichend
günstige Aufnahme und Unterstützung fände, um für Montenegro
nützlich werden zu können.

Wenn man in Petersburg aus den bisherigen Mißgriffen die
Folgerungen ziehn und praktisch machen will, so wäre es natür¬
lich, sich auf die weniger phantastischen Fortschritte zu beschränken,
die durch das Gewicht der Regimenter und Kanonen zu erreichen
sind. Der geschichtlich poetischen Seite, die der Kaiserin Katharina

Rußlands „Befreiungs“-Politik.
populär gemachten Ypſilanti'ſchen Aufſtandes, des durch die Fa¬
narioten vermittelten Ausläufers gräciſirender Orientpolitik, noch die
einheitliche Zuſtimmung der verſchiedenen ruſſiſchen Strömungen
hatten, die von Araktſchejew bis zu den Decabriſten durch einander
liefen, iſt gleichgültig, jedenfalls aber waren die Erſtlinge der ruſſi¬
ſchen Befreiungspolitik, die Griechen, eine, freilich noch nicht durch¬
ſchlagende, Enttäuſchung für Rußland. Die griechiſche Befreiungs¬
politik hört mit und ſeit Navarin auch in den Augen der Ruſſen
auf, eine ruſſiſche Specialität zu ſein. Es hat lange gedauert, ehe
das ruſſiſche Cabinet aus dieſem kritiſchen Ergebniß die Conſequenzen
zog. Die rudis indigestaque moles Rußland wiegt zu ſchwer, um
für jede Wahrnehmung des politiſchen Inſtincts leicht lenkſam zu
ſein. Man fuhr fort zu befreien und machte mit den Rumänen,
Serben, Bulgaren dieſelbe Erfahrung wie mit den Griechen. Alle
dieſe Stämme haben Rußlands Hülfe zur Befreiung von den
Türken bereitwillig angenommen, aber, nachdem ſie frei geworden,
keine Neigung gezeigt, den Zaren zum Nachfolger des Sultans
anzunehmen. Ich weiß nicht, ob man in Petersburg die Ueber¬
zeugung theilt, daß auch der „einzige Freund“ des Zaren, der
Fürſt von Montenegro, was bei ſeiner entfernten und iſolirten
Situation auch einigermaßen entſchuldbar iſt, nur ſo lange die
ruſſiſche Flagge hiſſen wird, als er Aequivalente an Geld oder
Macht dafür erwartet; aber es kann in Petersburg nicht unbekannt
ſein, daß der Vladika bereit war, und vielleicht noch bereit iſt, als
großherrlich türkiſcher Connetable an die Spitze der Balkanvölker
zu treten, wenn dieſer Gedanke bei der Pforte eine hinreichend
günſtige Aufnahme und Unterſtützung fände, um für Montenegro
nützlich werden zu können.

Wenn man in Petersburg aus den bisherigen Mißgriffen die
Folgerungen ziehn und praktiſch machen will, ſo wäre es natür¬
lich, ſich auf die weniger phantaſtiſchen Fortſchritte zu beſchränken,
die durch das Gewicht der Regimenter und Kanonen zu erreichen
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[269/0293] Rußlands „Befreiungs“-Politik. populär gemachten Ypſilanti'ſchen Aufſtandes, des durch die Fa¬ narioten vermittelten Ausläufers gräciſirender Orientpolitik, noch die einheitliche Zuſtimmung der verſchiedenen ruſſiſchen Strömungen hatten, die von Araktſchejew bis zu den Decabriſten durch einander liefen, iſt gleichgültig, jedenfalls aber waren die Erſtlinge der ruſſi¬ ſchen Befreiungspolitik, die Griechen, eine, freilich noch nicht durch¬ ſchlagende, Enttäuſchung für Rußland. Die griechiſche Befreiungs¬ politik hört mit und ſeit Navarin auch in den Augen der Ruſſen auf, eine ruſſiſche Specialität zu ſein. Es hat lange gedauert, ehe das ruſſiſche Cabinet aus dieſem kritiſchen Ergebniß die Conſequenzen zog. Die rudis indigestaque moles Rußland wiegt zu ſchwer, um für jede Wahrnehmung des politiſchen Inſtincts leicht lenkſam zu ſein. Man fuhr fort zu befreien und machte mit den Rumänen, Serben, Bulgaren dieſelbe Erfahrung wie mit den Griechen. Alle dieſe Stämme haben Rußlands Hülfe zur Befreiung von den Türken bereitwillig angenommen, aber, nachdem ſie frei geworden, keine Neigung gezeigt, den Zaren zum Nachfolger des Sultans anzunehmen. Ich weiß nicht, ob man in Petersburg die Ueber¬ zeugung theilt, daß auch der „einzige Freund“ des Zaren, der Fürſt von Montenegro, was bei ſeiner entfernten und iſolirten Situation auch einigermaßen entſchuldbar iſt, nur ſo lange die ruſſiſche Flagge hiſſen wird, als er Aequivalente an Geld oder Macht dafür erwartet; aber es kann in Petersburg nicht unbekannt ſein, daß der Vladika bereit war, und vielleicht noch bereit iſt, als großherrlich türkiſcher Connetable an die Spitze der Balkanvölker zu treten, wenn dieſer Gedanke bei der Pforte eine hinreichend günſtige Aufnahme und Unterſtützung fände, um für Montenegro nützlich werden zu können. Wenn man in Petersburg aus den bisherigen Mißgriffen die Folgerungen ziehn und praktiſch machen will, ſo wäre es natür¬ lich, ſich auf die weniger phantaſtiſchen Fortſchritte zu beſchränken, die durch das Gewicht der Regimenter und Kanonen zu erreichen ſind. Der geſchichtlich poetiſchen Seite, die der Kaiſerin Katharina

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Zitationshilfe: Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 2. Stuttgart, 1898, S. 269. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen02_1898/293>, abgerufen am 22.11.2024.