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Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 2. Stuttgart, 1898.

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Dreißigstes Kapitel: Zukünftige Politik Rußlands.
Gelegenheiten, zur Anschauung zu bringen, daß wir befriedigt und
friedliebend sind, auch in Zukunft nicht ausbleiben werden. Ich
habe während meiner Amtsführung zu drei Kriegen gerathen, dem
dänischen, dem böhmischen und dem französischen, aber mir auch
jedesmal vorher klar gemacht, ob der Krieg, wenn er siegreich wäre,
einen Kampfpreis bringen würde, werth der Opfer, die jeder Krieg
fordert und die heut so viel schwerer sind, als in dem vorigen
Jahrhundert. Wenn ich mir hätte sagen müssen, daß wir nach
einem dieser Kriege in Verlegenheit sein würden, uns wünschens¬
werthe Friedensbedingungen auszudenken, so würde ich mich, so lange
wir nicht materiell angegriffen waren, schwerlich von der Noth¬
wendigkeit solcher Opfer überzeugt haben. Internationale Streitig¬
keiten, die nur durch den Volkskrieg erledigt werden können, habe
ich niemals aus dem Gesichtspunkte des Göttinger Comments und
der Privatmensuren-Ehre aufgefaßt, sondern stets nur in Abwägung
ihrer Rückwirkung auf den Anspruch des deutschen Volkes, in Gleich¬
berechtigung mit den andern großen Mächten Europas ein autonomes
politisches Leben zu führen, wie es auf der Basis der uns eigen¬
thümlichen nationalen Leistungsfähigkeit möglich ist.

Die traditionelle russische Politik, die sich theils auf Glaubens-,
theils auf Blutsverwandschaft gründet, der Gedanke, die Rumänen,
die Bulgaren, die griechischen, gelegentlich auch die römisch-katholi¬
schen Serben, die unter verschiedenen Namen zu beiden Seiten der
östreichisch-ungarischen Grenze vorkommen, zu "befreien" von dem
türkischen Joche und dadurch an Rußland zu fesseln, hat sich nicht
bewährt. Es ist nicht unmöglich, daß in ferner Zukunft alle diese
Stämme dem russischen Systeme gewaltsam angefügt werden, aber
daß die Befreiung allein sie nicht in Anhänger der russischen Macht
verwandelt, hat zuerst der griechische Stamm bewiesen. Er wurde
seit Tschesme (1770) als Stützpunkt Rußlands betrachtet, und noch
in dem russisch-türkischen Kriege von 1806 bis 1812 schienen die
Ziele der kaiserlich russischen Politik unverändert zu sein. Ob die
Unternehmungen der Hetärie zur Zeit des auch schon im Westen

Dreißigſtes Kapitel: Zukünftige Politik Rußlands.
Gelegenheiten, zur Anſchauung zu bringen, daß wir befriedigt und
friedliebend ſind, auch in Zukunft nicht ausbleiben werden. Ich
habe während meiner Amtsführung zu drei Kriegen gerathen, dem
däniſchen, dem böhmiſchen und dem franzöſiſchen, aber mir auch
jedesmal vorher klar gemacht, ob der Krieg, wenn er ſiegreich wäre,
einen Kampfpreis bringen würde, werth der Opfer, die jeder Krieg
fordert und die heut ſo viel ſchwerer ſind, als in dem vorigen
Jahrhundert. Wenn ich mir hätte ſagen müſſen, daß wir nach
einem dieſer Kriege in Verlegenheit ſein würden, uns wünſchens¬
werthe Friedensbedingungen auszudenken, ſo würde ich mich, ſo lange
wir nicht materiell angegriffen waren, ſchwerlich von der Noth¬
wendigkeit ſolcher Opfer überzeugt haben. Internationale Streitig¬
keiten, die nur durch den Volkskrieg erledigt werden können, habe
ich niemals aus dem Geſichtspunkte des Göttinger Comments und
der Privatmenſuren-Ehre aufgefaßt, ſondern ſtets nur in Abwägung
ihrer Rückwirkung auf den Anſpruch des deutſchen Volkes, in Gleich¬
berechtigung mit den andern großen Mächten Europas ein autonomes
politiſches Leben zu führen, wie es auf der Baſis der uns eigen¬
thümlichen nationalen Leiſtungsfähigkeit möglich iſt.

Die traditionelle ruſſiſche Politik, die ſich theils auf Glaubens-,
theils auf Blutsverwandſchaft gründet, der Gedanke, die Rumänen,
die Bulgaren, die griechiſchen, gelegentlich auch die römiſch-katholi¬
ſchen Serben, die unter verſchiedenen Namen zu beiden Seiten der
öſtreichiſch-ungariſchen Grenze vorkommen, zu „befreien“ von dem
türkiſchen Joche und dadurch an Rußland zu feſſeln, hat ſich nicht
bewährt. Es iſt nicht unmöglich, daß in ferner Zukunft alle dieſe
Stämme dem ruſſiſchen Syſteme gewaltſam angefügt werden, aber
daß die Befreiung allein ſie nicht in Anhänger der ruſſiſchen Macht
verwandelt, hat zuerſt der griechiſche Stamm bewieſen. Er wurde
ſeit Tſchesme (1770) als Stützpunkt Rußlands betrachtet, und noch
in dem ruſſiſch-türkiſchen Kriege von 1806 bis 1812 ſchienen die
Ziele der kaiſerlich ruſſiſchen Politik unverändert zu ſein. Ob die
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[268/0292] Dreißigſtes Kapitel: Zukünftige Politik Rußlands. Gelegenheiten, zur Anſchauung zu bringen, daß wir befriedigt und friedliebend ſind, auch in Zukunft nicht ausbleiben werden. Ich habe während meiner Amtsführung zu drei Kriegen gerathen, dem däniſchen, dem böhmiſchen und dem franzöſiſchen, aber mir auch jedesmal vorher klar gemacht, ob der Krieg, wenn er ſiegreich wäre, einen Kampfpreis bringen würde, werth der Opfer, die jeder Krieg fordert und die heut ſo viel ſchwerer ſind, als in dem vorigen Jahrhundert. Wenn ich mir hätte ſagen müſſen, daß wir nach einem dieſer Kriege in Verlegenheit ſein würden, uns wünſchens¬ werthe Friedensbedingungen auszudenken, ſo würde ich mich, ſo lange wir nicht materiell angegriffen waren, ſchwerlich von der Noth¬ wendigkeit ſolcher Opfer überzeugt haben. Internationale Streitig¬ keiten, die nur durch den Volkskrieg erledigt werden können, habe ich niemals aus dem Geſichtspunkte des Göttinger Comments und der Privatmenſuren-Ehre aufgefaßt, ſondern ſtets nur in Abwägung ihrer Rückwirkung auf den Anſpruch des deutſchen Volkes, in Gleich¬ berechtigung mit den andern großen Mächten Europas ein autonomes politiſches Leben zu führen, wie es auf der Baſis der uns eigen¬ thümlichen nationalen Leiſtungsfähigkeit möglich iſt. Die traditionelle ruſſiſche Politik, die ſich theils auf Glaubens-, theils auf Blutsverwandſchaft gründet, der Gedanke, die Rumänen, die Bulgaren, die griechiſchen, gelegentlich auch die römiſch-katholi¬ ſchen Serben, die unter verſchiedenen Namen zu beiden Seiten der öſtreichiſch-ungariſchen Grenze vorkommen, zu „befreien“ von dem türkiſchen Joche und dadurch an Rußland zu feſſeln, hat ſich nicht bewährt. Es iſt nicht unmöglich, daß in ferner Zukunft alle dieſe Stämme dem ruſſiſchen Syſteme gewaltſam angefügt werden, aber daß die Befreiung allein ſie nicht in Anhänger der ruſſiſchen Macht verwandelt, hat zuerſt der griechiſche Stamm bewieſen. Er wurde ſeit Tſchesme (1770) als Stützpunkt Rußlands betrachtet, und noch in dem ruſſiſch-türkiſchen Kriege von 1806 bis 1812 ſchienen die Ziele der kaiſerlich ruſſiſchen Politik unverändert zu ſein. Ob die Unternehmungen der Hetärie zur Zeit des auch ſchon im Weſten

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Zitationshilfe: Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 2. Stuttgart, 1898, S. 268. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen02_1898/292>, abgerufen am 22.11.2024.