Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 2. Stuttgart, 1898.Dreiundzwanzigstes Kapitel: Versailles. wenn unsre Truppen vor Paris, im Westen, Norden und OstenFrankreichs vor Seuchen bewahrt blieben. Die Frage, wie der Gesundheitszustand des deutschen Heeres sich in den Beschwerden eines so ungewöhnlich harten Winters bewähren werde, entzog sich jeder Berechnung. Es war unter diesen Umständen keine über¬ triebene Aengstlichkeit, wenn ich in schlaflosen Nächten von der Sorge gequält wurde, daß unsre politischen Interessen nach so großen Erfolgen durch das zögernde Hinhalten des weitern Vorgehns gegen Paris schwer geschädigt werden könnten. Eine weltgeschichtliche Ent¬ scheidung in dem Jahrhunderte alten Kampfe zwischen den beiden Nachbarvölkern stand auf dem Spiele und in Gefahr, durch per¬ sönliche und vorwiegend weibliche Einflüsse ohne historische Be¬ rechtigung gefälscht zu werden, durch Einflüsse, die ihre Wirksam¬ keit nicht politischen Erwägungen verdankten, sondern Gemüths¬ eindrücken, welche die Redensarten von Humanität und Civilisation, die aus England bei uns importirt werden, auf deutsche Gemüther noch immer haben; war uns doch während des Krimkrieges von England aus nicht ohne Wirkung auf die Stimmung gepredigt worden, daß wir "zur Rettung der Civilisation" die Waffen für die Türken ergreifen müßten. Die entscheidenden Fragen konnten, wenn man wollte, als ausschließlich militärische behandelt werden, und man konnte das als Vorwand nehmen, um mir das Recht der Betheiligung an der Entscheidung zu versagen; sie waren aber doch solche, von deren Lösung die diplomatische Möglichkeit in letzter Instanz abhing, und wenn der Abschluß des französischen Krieges ein weniger günstiger für Deutschland gewesen wäre, so blieb auch dieser gewaltige Krieg mit seinen Siegen und seiner Begeisterung ohne die Wirkung, die er für unsre nationale Eini¬ gung haben konnte. Es war mir niemals zweifelhaft, daß der Herstellung des Deutschen Reiches der Sieg über Frankreich vor¬ hergehn mußte, und wenn es uns nicht gelang, ihn diesmal zum vollen Abschluß zu bringen, so waren weitre Kriege ohne vor¬ gängige Sicherstellung unsrer vollen Einigung in Sicht. Dreiundzwanzigſtes Kapitel: Verſailles. wenn unſre Truppen vor Paris, im Weſten, Norden und OſtenFrankreichs vor Seuchen bewahrt blieben. Die Frage, wie der Geſundheitszuſtand des deutſchen Heeres ſich in den Beſchwerden eines ſo ungewöhnlich harten Winters bewähren werde, entzog ſich jeder Berechnung. Es war unter dieſen Umſtänden keine über¬ triebene Aengſtlichkeit, wenn ich in ſchlafloſen Nächten von der Sorge gequält wurde, daß unſre politiſchen Intereſſen nach ſo großen Erfolgen durch das zögernde Hinhalten des weitern Vorgehns gegen Paris ſchwer geſchädigt werden könnten. Eine weltgeſchichtliche Ent¬ ſcheidung in dem Jahrhunderte alten Kampfe zwiſchen den beiden Nachbarvölkern ſtand auf dem Spiele und in Gefahr, durch per¬ ſönliche und vorwiegend weibliche Einflüſſe ohne hiſtoriſche Be¬ rechtigung gefälſcht zu werden, durch Einflüſſe, die ihre Wirkſam¬ keit nicht politiſchen Erwägungen verdankten, ſondern Gemüths¬ eindrücken, welche die Redensarten von Humanität und Civiliſation, die aus England bei uns importirt werden, auf deutſche Gemüther noch immer haben; war uns doch während des Krimkrieges von England aus nicht ohne Wirkung auf die Stimmung gepredigt worden, daß wir „zur Rettung der Civiliſation“ die Waffen für die Türken ergreifen müßten. Die entſcheidenden Fragen konnten, wenn man wollte, als ausſchließlich militäriſche behandelt werden, und man konnte das als Vorwand nehmen, um mir das Recht der Betheiligung an der Entſcheidung zu verſagen; ſie waren aber doch ſolche, von deren Löſung die diplomatiſche Möglichkeit in letzter Inſtanz abhing, und wenn der Abſchluß des franzöſiſchen Krieges ein weniger günſtiger für Deutſchland geweſen wäre, ſo blieb auch dieſer gewaltige Krieg mit ſeinen Siegen und ſeiner Begeiſterung ohne die Wirkung, die er für unſre nationale Eini¬ gung haben konnte. Es war mir niemals zweifelhaft, daß der Herſtellung des Deutſchen Reiches der Sieg über Frankreich vor¬ hergehn mußte, und wenn es uns nicht gelang, ihn diesmal zum vollen Abſchluß zu bringen, ſo waren weitre Kriege ohne vor¬ gängige Sicherſtellung unſrer vollen Einigung in Sicht. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0134" n="110"/><fw place="top" type="header">Dreiundzwanzigſtes Kapitel: Verſailles.<lb/></fw> wenn unſre Truppen vor Paris, im Weſten, Norden und Oſten<lb/> Frankreichs vor Seuchen bewahrt blieben. Die Frage, wie der<lb/> Geſundheitszuſtand des deutſchen Heeres ſich in den Beſchwerden<lb/> eines ſo ungewöhnlich harten Winters bewähren werde, entzog ſich<lb/> jeder Berechnung. 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Dreiundzwanzigſtes Kapitel: Verſailles.
wenn unſre Truppen vor Paris, im Weſten, Norden und Oſten
Frankreichs vor Seuchen bewahrt blieben. Die Frage, wie der
Geſundheitszuſtand des deutſchen Heeres ſich in den Beſchwerden
eines ſo ungewöhnlich harten Winters bewähren werde, entzog ſich
jeder Berechnung. Es war unter dieſen Umſtänden keine über¬
triebene Aengſtlichkeit, wenn ich in ſchlafloſen Nächten von der Sorge
gequält wurde, daß unſre politiſchen Intereſſen nach ſo großen
Erfolgen durch das zögernde Hinhalten des weitern Vorgehns gegen
Paris ſchwer geſchädigt werden könnten. Eine weltgeſchichtliche Ent¬
ſcheidung in dem Jahrhunderte alten Kampfe zwiſchen den beiden
Nachbarvölkern ſtand auf dem Spiele und in Gefahr, durch per¬
ſönliche und vorwiegend weibliche Einflüſſe ohne hiſtoriſche Be¬
rechtigung gefälſcht zu werden, durch Einflüſſe, die ihre Wirkſam¬
keit nicht politiſchen Erwägungen verdankten, ſondern Gemüths¬
eindrücken, welche die Redensarten von Humanität und Civiliſation,
die aus England bei uns importirt werden, auf deutſche Gemüther
noch immer haben; war uns doch während des Krimkrieges von
England aus nicht ohne Wirkung auf die Stimmung gepredigt
worden, daß wir „zur Rettung der Civiliſation“ die Waffen für
die Türken ergreifen müßten. Die entſcheidenden Fragen konnten,
wenn man wollte, als ausſchließlich militäriſche behandelt werden,
und man konnte das als Vorwand nehmen, um mir das Recht
der Betheiligung an der Entſcheidung zu verſagen; ſie waren aber
doch ſolche, von deren Löſung die diplomatiſche Möglichkeit in
letzter Inſtanz abhing, und wenn der Abſchluß des franzöſiſchen
Krieges ein weniger günſtiger für Deutſchland geweſen wäre, ſo
blieb auch dieſer gewaltige Krieg mit ſeinen Siegen und ſeiner
Begeiſterung ohne die Wirkung, die er für unſre nationale Eini¬
gung haben konnte. Es war mir niemals zweifelhaft, daß der
Herſtellung des Deutſchen Reiches der Sieg über Frankreich vor¬
hergehn mußte, und wenn es uns nicht gelang, ihn diesmal zum
vollen Abſchluß zu bringen, ſo waren weitre Kriege ohne vor¬
gängige Sicherſtellung unſrer vollen Einigung in Sicht.
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