Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 1. Stuttgart, 1898.

Bild:
<< vorherige Seite

Dreizehntes Kapitel: Dynastien und Stämme.
märker bei Salzwedel von dem kurbraunschweigischen Niedersachsen
bei Lüchow, in Moor und Haide dem Auge unerkennbar, trennt,
doch den zu beiden Seiten plattdeutsch redenden Niedersachsen an
zwei verschiedene, einander unter Umständen feindliche völkerrechtliche
Gebilde verweisen will, deren eines von Berlin, und das andre
früher von London, später von Hanover regirt wurde, das eine
Augen rechts nach Osten, das andre Augen links nach Westen bereit
stand, und daß friedliche und gleichartige, im Connubium verkehrende
Bauern dieser Gegend, der eine für welfisch-habsburgische, der andre
für hohenzollernsche Interessen auf einander schießen sollten. Daß
dieß überhaupt möglich war, beweist die Tiefe und Gewalt des Ein¬
flusses dynastischer Anhänglichkeit auf den Deutschen. Daß die Dyna¬
stien jederzeit stärker geblieben sind als Presse und Parlamente,
hat sich durch die Thatsache bestätigt, daß 1866 Bundesländer,
deren Dynastien im Bereich des östreichischen Einflusses lagen, ohne
Rücksicht auf nationale Bestrebungen mit Oestreich, und nur solche,
welche "unter den preußischen Kanonen" lagen, mit Preußen gingen.
Von den letztern machten allerdings Hanover, Hessen und Nassau
Ausnahmen, weil sie Oestreich für stark genug hielten, um alle
Zumuthungen Preußens siegreich abweisen zu können. Sie haben
infolge dessen die Zeche bezahlt, da es nicht gelang, dem Könige
Wilhelm die Vorstellung annehmbar zu machen, daß Preußen, an
der Spitze des Norddeutschen Bundes, einer Vergrößerung seines
Gebietes kaum bedürfen würde. Gewiß aber ist, daß auch 1866
die materielle Macht der Bundesstaaten den Dynastien und nicht
den Parlamenten folgte, und daß sächsisches, hanöversches und
hessisches Blut nicht für die deutsche Einheit, sondern dagegen ver¬
gossen ist.

Die Dynastien bildeten überall den Punkt, um den der deutsche
Trieb nach Sonderung in engern Verbänden seine Krystalle ansetzte.


Dreizehntes Kapitel: Dynaſtien und Stämme.
märker bei Salzwedel von dem kurbraunſchweigiſchen Niederſachſen
bei Lüchow, in Moor und Haide dem Auge unerkennbar, trennt,
doch den zu beiden Seiten plattdeutſch redenden Niederſachſen an
zwei verſchiedene, einander unter Umſtänden feindliche völkerrechtliche
Gebilde verweiſen will, deren eines von Berlin, und das andre
früher von London, ſpäter von Hanover regirt wurde, das eine
Augen rechts nach Oſten, das andre Augen links nach Weſten bereit
ſtand, und daß friedliche und gleichartige, im Connubium verkehrende
Bauern dieſer Gegend, der eine für welfiſch-habsburgiſche, der andre
für hohenzollernſche Intereſſen auf einander ſchießen ſollten. Daß
dieß überhaupt möglich war, beweiſt die Tiefe und Gewalt des Ein¬
fluſſes dynaſtiſcher Anhänglichkeit auf den Deutſchen. Daß die Dyna¬
ſtien jederzeit ſtärker geblieben ſind als Preſſe und Parlamente,
hat ſich durch die Thatſache beſtätigt, daß 1866 Bundesländer,
deren Dynaſtien im Bereich des öſtreichiſchen Einfluſſes lagen, ohne
Rückſicht auf nationale Beſtrebungen mit Oeſtreich, und nur ſolche,
welche „unter den preußiſchen Kanonen“ lagen, mit Preußen gingen.
Von den letztern machten allerdings Hanover, Heſſen und Naſſau
Ausnahmen, weil ſie Oeſtreich für ſtark genug hielten, um alle
Zumuthungen Preußens ſiegreich abweiſen zu können. Sie haben
infolge deſſen die Zeche bezahlt, da es nicht gelang, dem Könige
Wilhelm die Vorſtellung annehmbar zu machen, daß Preußen, an
der Spitze des Norddeutſchen Bundes, einer Vergrößerung ſeines
Gebietes kaum bedürfen würde. Gewiß aber iſt, daß auch 1866
die materielle Macht der Bundesſtaaten den Dynaſtien und nicht
den Parlamenten folgte, und daß ſächſiſches, hanöverſches und
heſſiſches Blut nicht für die deutſche Einheit, ſondern dagegen ver¬
goſſen iſt.

Die Dynaſtien bildeten überall den Punkt, um den der deutſche
Trieb nach Sonderung in engern Verbänden ſeine Kryſtalle anſetzte.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0323" n="296"/><fw place="top" type="header">Dreizehntes Kapitel: Dyna&#x017F;tien und Stämme.<lb/></fw> märker bei Salzwedel von dem kurbraun&#x017F;chweigi&#x017F;chen Nieder&#x017F;ach&#x017F;en<lb/>
bei Lüchow, in Moor und Haide dem Auge unerkennbar, trennt,<lb/>
doch den zu beiden Seiten plattdeut&#x017F;ch redenden Nieder&#x017F;ach&#x017F;en an<lb/>
zwei ver&#x017F;chiedene, einander unter Um&#x017F;tänden feindliche völkerrechtliche<lb/>
Gebilde verwei&#x017F;en will, deren eines von Berlin, und das andre<lb/>
früher von London, &#x017F;päter von Hanover regirt wurde, das eine<lb/>
Augen rechts nach O&#x017F;ten, das andre Augen links nach We&#x017F;ten bereit<lb/>
&#x017F;tand, und daß friedliche und gleichartige, im Connubium verkehrende<lb/>
Bauern die&#x017F;er Gegend, der eine für welfi&#x017F;ch-habsburgi&#x017F;che, der andre<lb/>
für hohenzollern&#x017F;che Intere&#x017F;&#x017F;en auf einander &#x017F;chießen &#x017F;ollten. Daß<lb/>
dieß überhaupt möglich war, bewei&#x017F;t die Tiefe und Gewalt des Ein¬<lb/>
flu&#x017F;&#x017F;es dyna&#x017F;ti&#x017F;cher Anhänglichkeit auf den Deut&#x017F;chen. Daß die Dyna¬<lb/>
&#x017F;tien jederzeit &#x017F;tärker geblieben &#x017F;ind als Pre&#x017F;&#x017F;e und Parlamente,<lb/>
hat &#x017F;ich durch die That&#x017F;ache be&#x017F;tätigt, daß 1866 Bundesländer,<lb/>
deren Dyna&#x017F;tien im Bereich des ö&#x017F;treichi&#x017F;chen Einflu&#x017F;&#x017F;es lagen, ohne<lb/>
Rück&#x017F;icht auf nationale Be&#x017F;trebungen mit Oe&#x017F;treich, und nur &#x017F;olche,<lb/>
welche &#x201E;unter den preußi&#x017F;chen Kanonen&#x201C; lagen, mit Preußen gingen.<lb/>
Von den letztern machten allerdings Hanover, He&#x017F;&#x017F;en und Na&#x017F;&#x017F;au<lb/>
Ausnahmen, weil &#x017F;ie Oe&#x017F;treich für &#x017F;tark genug hielten, um alle<lb/>
Zumuthungen Preußens &#x017F;iegreich abwei&#x017F;en zu können. Sie haben<lb/>
infolge de&#x017F;&#x017F;en die Zeche bezahlt, da es nicht gelang, dem Könige<lb/>
Wilhelm die Vor&#x017F;tellung annehmbar zu machen, daß Preußen, an<lb/>
der Spitze des Norddeut&#x017F;chen Bundes, einer Vergrößerung &#x017F;eines<lb/>
Gebietes kaum bedürfen würde. Gewiß aber i&#x017F;t, daß auch 1866<lb/>
die materielle Macht der Bundes&#x017F;taaten den Dyna&#x017F;tien und nicht<lb/>
den Parlamenten folgte, und daß &#x017F;äch&#x017F;i&#x017F;ches, hanöver&#x017F;ches und<lb/>
he&#x017F;&#x017F;i&#x017F;ches Blut nicht für die deut&#x017F;che Einheit, &#x017F;ondern dagegen ver¬<lb/>
go&#x017F;&#x017F;en i&#x017F;t.</p><lb/>
        <p>Die Dyna&#x017F;tien bildeten überall den Punkt, um den der deut&#x017F;che<lb/>
Trieb nach Sonderung in engern Verbänden &#x017F;eine Kry&#x017F;talle an&#x017F;etzte.</p><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[296/0323] Dreizehntes Kapitel: Dynaſtien und Stämme. märker bei Salzwedel von dem kurbraunſchweigiſchen Niederſachſen bei Lüchow, in Moor und Haide dem Auge unerkennbar, trennt, doch den zu beiden Seiten plattdeutſch redenden Niederſachſen an zwei verſchiedene, einander unter Umſtänden feindliche völkerrechtliche Gebilde verweiſen will, deren eines von Berlin, und das andre früher von London, ſpäter von Hanover regirt wurde, das eine Augen rechts nach Oſten, das andre Augen links nach Weſten bereit ſtand, und daß friedliche und gleichartige, im Connubium verkehrende Bauern dieſer Gegend, der eine für welfiſch-habsburgiſche, der andre für hohenzollernſche Intereſſen auf einander ſchießen ſollten. Daß dieß überhaupt möglich war, beweiſt die Tiefe und Gewalt des Ein¬ fluſſes dynaſtiſcher Anhänglichkeit auf den Deutſchen. Daß die Dyna¬ ſtien jederzeit ſtärker geblieben ſind als Preſſe und Parlamente, hat ſich durch die Thatſache beſtätigt, daß 1866 Bundesländer, deren Dynaſtien im Bereich des öſtreichiſchen Einfluſſes lagen, ohne Rückſicht auf nationale Beſtrebungen mit Oeſtreich, und nur ſolche, welche „unter den preußiſchen Kanonen“ lagen, mit Preußen gingen. Von den letztern machten allerdings Hanover, Heſſen und Naſſau Ausnahmen, weil ſie Oeſtreich für ſtark genug hielten, um alle Zumuthungen Preußens ſiegreich abweiſen zu können. Sie haben infolge deſſen die Zeche bezahlt, da es nicht gelang, dem Könige Wilhelm die Vorſtellung annehmbar zu machen, daß Preußen, an der Spitze des Norddeutſchen Bundes, einer Vergrößerung ſeines Gebietes kaum bedürfen würde. Gewiß aber iſt, daß auch 1866 die materielle Macht der Bundesſtaaten den Dynaſtien und nicht den Parlamenten folgte, und daß ſächſiſches, hanöverſches und heſſiſches Blut nicht für die deutſche Einheit, ſondern dagegen ver¬ goſſen iſt. Die Dynaſtien bildeten überall den Punkt, um den der deutſche Trieb nach Sonderung in engern Verbänden ſeine Kryſtalle anſetzte.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen01_1898
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen01_1898/323
Zitationshilfe: Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 1. Stuttgart, 1898, S. 296. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen01_1898/323>, abgerufen am 25.11.2024.