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Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 1. Stuttgart, 1898.

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Dynastische Anhänglichkeit bei deutschen Stämmen.
thums von allen den Parteien, die bisher an der Herrschaft An¬
theil gehabt haben, für nützlich gehalten, aber ich glaube nicht,
daß das Volk zerfallen oder daß ähnliche Gefühle, wie zur Zeit
der Jacobiten, sich thatkräftig geltend machen würden, wenn die
geschichtliche Entwicklung einen Dynastiewechsel oder den Ueber¬
gang zur Republik für das britische Volk nöthig oder nützlich er¬
scheinen ließe.

Das Vorwiegen der dynastischen Anhänglichkeit und die Un¬
entbehrlichkeit einer Dynastie als Bindemittel für das Zusammen¬
halten eines bestimmten Bruchtheils der Nation unter dem Namen
der Dynastie ist eine specifisch reichsdeutsche Eigenthümlichkeit. Die
besondern Nationalitäten, die sich bei uns auf der Basis des
dynastischen Familienbesitzes gebildet haben, begreifen in sich in den
meisten Fällen Heterogene, deren Zusammengehörigkeit weder auf der
Gleichheit des Stammes, noch auf der Gleichheit der geschichtlichen
Entwicklung beruht, sondern ausschließlich auf der Thatsache einer
in vielen Fällen anfechtbaren Erwerbung durch die Dynastie nach
dem Rechte des Stärkern, oder des erbrechtlichen Anfalls vermöge
der Verwandschaft, der Erbverbrüderung, oder der bei Wahl¬
capitulationen von dem kaiserlichen Hofe erlangten Anwartschaft.
Welches immer der Ursprung dieser particularistischen Zusammen¬
gehörigkeit in Deutschland ist, das Ergebniß derselben bleibt die
Thatsache, daß der einzelne Deutsche leicht bereit ist, seinen deut¬
schen Nachbarn und Stammesgenossen mit Feuer und Schwert zu
bekämpfen und persönlich zu tödten, wenn infolge von Streitig¬
keiten, die ihm selbst nicht verständlich sind, der dynastische Befehl
dazu ergeht. Die Berechtigung und Vernünftigkeit dieser Eigen¬
thümlichkeit zu prüfen, ist nicht die Aufgabe eines deutschen Staats¬
mannes, so lange sie sich kräftig genug erweist, um mit ihr
rechnen zu können. Die Schwierigkeit, sie zu zerstören und zu
ignoriren, oder die Einheit theoretisch zu fördern, ohne Rücksicht
auf dieses praktische Hemmniß, ist für die Vorkämpfer der Einheit
oft verhängnißvoll gewesen, namentlich bei Benutzung der günstigen

Dynaſtiſche Anhänglichkeit bei deutſchen Stämmen.
thums von allen den Parteien, die bisher an der Herrſchaft An¬
theil gehabt haben, für nützlich gehalten, aber ich glaube nicht,
daß das Volk zerfallen oder daß ähnliche Gefühle, wie zur Zeit
der Jacobiten, ſich thatkräftig geltend machen würden, wenn die
geſchichtliche Entwicklung einen Dynaſtiewechſel oder den Ueber¬
gang zur Republik für das britiſche Volk nöthig oder nützlich er¬
ſcheinen ließe.

Das Vorwiegen der dynaſtiſchen Anhänglichkeit und die Un¬
entbehrlichkeit einer Dynaſtie als Bindemittel für das Zuſammen¬
halten eines beſtimmten Bruchtheils der Nation unter dem Namen
der Dynaſtie iſt eine ſpecifiſch reichsdeutſche Eigenthümlichkeit. Die
beſondern Nationalitäten, die ſich bei uns auf der Baſis des
dynaſtiſchen Familienbeſitzes gebildet haben, begreifen in ſich in den
meiſten Fällen Heterogene, deren Zuſammengehörigkeit weder auf der
Gleichheit des Stammes, noch auf der Gleichheit der geſchichtlichen
Entwicklung beruht, ſondern ausſchließlich auf der Thatſache einer
in vielen Fällen anfechtbaren Erwerbung durch die Dynaſtie nach
dem Rechte des Stärkern, oder des erbrechtlichen Anfalls vermöge
der Verwandſchaft, der Erbverbrüderung, oder der bei Wahl¬
capitulationen von dem kaiſerlichen Hofe erlangten Anwartſchaft.
Welches immer der Urſprung dieſer particulariſtiſchen Zuſammen¬
gehörigkeit in Deutſchland iſt, das Ergebniß derſelben bleibt die
Thatſache, daß der einzelne Deutſche leicht bereit iſt, ſeinen deut¬
ſchen Nachbarn und Stammesgenoſſen mit Feuer und Schwert zu
bekämpfen und perſönlich zu tödten, wenn infolge von Streitig¬
keiten, die ihm ſelbſt nicht verſtändlich ſind, der dynaſtiſche Befehl
dazu ergeht. Die Berechtigung und Vernünftigkeit dieſer Eigen¬
thümlichkeit zu prüfen, iſt nicht die Aufgabe eines deutſchen Staats¬
mannes, ſo lange ſie ſich kräftig genug erweiſt, um mit ihr
rechnen zu können. Die Schwierigkeit, ſie zu zerſtören und zu
ignoriren, oder die Einheit theoretiſch zu fördern, ohne Rückſicht
auf dieſes praktiſche Hemmniß, iſt für die Vorkämpfer der Einheit
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[293/0320] Dynaſtiſche Anhänglichkeit bei deutſchen Stämmen. thums von allen den Parteien, die bisher an der Herrſchaft An¬ theil gehabt haben, für nützlich gehalten, aber ich glaube nicht, daß das Volk zerfallen oder daß ähnliche Gefühle, wie zur Zeit der Jacobiten, ſich thatkräftig geltend machen würden, wenn die geſchichtliche Entwicklung einen Dynaſtiewechſel oder den Ueber¬ gang zur Republik für das britiſche Volk nöthig oder nützlich er¬ ſcheinen ließe. Das Vorwiegen der dynaſtiſchen Anhänglichkeit und die Un¬ entbehrlichkeit einer Dynaſtie als Bindemittel für das Zuſammen¬ halten eines beſtimmten Bruchtheils der Nation unter dem Namen der Dynaſtie iſt eine ſpecifiſch reichsdeutſche Eigenthümlichkeit. Die beſondern Nationalitäten, die ſich bei uns auf der Baſis des dynaſtiſchen Familienbeſitzes gebildet haben, begreifen in ſich in den meiſten Fällen Heterogene, deren Zuſammengehörigkeit weder auf der Gleichheit des Stammes, noch auf der Gleichheit der geſchichtlichen Entwicklung beruht, ſondern ausſchließlich auf der Thatſache einer in vielen Fällen anfechtbaren Erwerbung durch die Dynaſtie nach dem Rechte des Stärkern, oder des erbrechtlichen Anfalls vermöge der Verwandſchaft, der Erbverbrüderung, oder der bei Wahl¬ capitulationen von dem kaiſerlichen Hofe erlangten Anwartſchaft. Welches immer der Urſprung dieſer particulariſtiſchen Zuſammen¬ gehörigkeit in Deutſchland iſt, das Ergebniß derſelben bleibt die Thatſache, daß der einzelne Deutſche leicht bereit iſt, ſeinen deut¬ ſchen Nachbarn und Stammesgenoſſen mit Feuer und Schwert zu bekämpfen und perſönlich zu tödten, wenn infolge von Streitig¬ keiten, die ihm ſelbſt nicht verſtändlich ſind, der dynaſtiſche Befehl dazu ergeht. Die Berechtigung und Vernünftigkeit dieſer Eigen¬ thümlichkeit zu prüfen, iſt nicht die Aufgabe eines deutſchen Staats¬ mannes, ſo lange ſie ſich kräftig genug erweiſt, um mit ihr rechnen zu können. Die Schwierigkeit, ſie zu zerſtören und zu ignoriren, oder die Einheit theoretiſch zu fördern, ohne Rückſicht auf dieſes praktiſche Hemmniß, iſt für die Vorkämpfer der Einheit oft verhängnißvoll geweſen, namentlich bei Benutzung der günſtigen

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Zitationshilfe: Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 1. Stuttgart, 1898, S. 293. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen01_1898/320>, abgerufen am 22.11.2024.