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Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 1. Stuttgart, 1898.

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Elftes Kapitel: Zwischenzustand.
glauben, daß eine lange und schwere Mißregirung das Volk gegen
seine Obrigkeit so erbittert hätte, daß bei jedem Luftzug die Flamme
ausschlägt. Politische Unreife hat viel Antheil an diesem Stolpern
über Zwirnsfäden; aber seit vierzehn Jahren haben wir der Nation
Geschmack an Politik beigebracht, ihr aber den Appetit nicht be¬
friedigt, und sie sucht die Nahrung in den Gossen. Wir sind fast
so eitel wie die Franzosen; können wir uns einreden, daß wir aus¬
wärts Ansehn haben, so lassen wir uns im Hause viel gefallen;
haben wir das Gefühl, daß jeder kleine Würzburger uns hänselt
und geringschätzt und daß wir es dulden aus Angst, weil wir hoffen,
daß die Reichsarmee uns vor Frankreich schützen wird, so sehn
wir innre Schäden an allen Ecken, und jeder Preßbengel, der den
Mund gegen die Regirung aufreißt, hat Recht. Von den Fürsten¬
häusern von Neapel bis Hanover wird uns keins unsre Liebe
danken, und wir üben an ihnen recht evangelische Feindesliebe, auf
Kosten der Sicherheit des eignen Thrones. Ich bin meinem Fürsten
treu bis in die Vendee, aber gegen alle andern fühle ich in keinem
Blutstropfen eine Spur von Verbindlichkeit, den Finger für sie
aufzuheben. In dieser Denkungsweise fürchte ich von der unsres
allergnädigsten Herrn so weit entfernt zu sein, daß er mich schwerlich
zum Rathe seiner Krone geeignet finden wird. Deshalb wird er
mich, wenn überhaupt, lieber im Innern verwenden. Das bleibt
sich aber m. E. ganz gleich, denn ich verspreche mir von der
Gesammtregirung keine gedeihlichen Resultate, wenn unsre aus¬
wärtige Haltung nicht kräftiger und unabhängiger von dynastischen
Sympathien wird, an denen wir aus Mangel an Selbstvertrauen
eine Anlehnung suchen, die sie nicht gewähren können und die wir
nicht brauchen. Wegen der Wahlen ist es Schade, daß der Bruch
sich grade so gestaltet; die gut königliche Masse der Wähler wird
den Streit über die Huldigung nicht verstehn, und die Demokratie
ihn entstellen. Es wäre besser gewesen, in der Militärfrage stramm
zu halten gegen Kühne, mit der Kammer zu brechen, sie aufzulösen
und damit der Nation zu zeigen, wie der König zu den Leuten

Elftes Kapitel: Zwiſchenzuſtand.
glauben, daß eine lange und ſchwere Mißregirung das Volk gegen
ſeine Obrigkeit ſo erbittert hätte, daß bei jedem Luftzug die Flamme
auſſchlägt. Politiſche Unreife hat viel Antheil an dieſem Stolpern
über Zwirnsfäden; aber ſeit vierzehn Jahren haben wir der Nation
Geſchmack an Politik beigebracht, ihr aber den Appetit nicht be¬
friedigt, und ſie ſucht die Nahrung in den Goſſen. Wir ſind faſt
ſo eitel wie die Franzoſen; können wir uns einreden, daß wir aus¬
wärts Anſehn haben, ſo laſſen wir uns im Hauſe viel gefallen;
haben wir das Gefühl, daß jeder kleine Würzburger uns hänſelt
und geringſchätzt und daß wir es dulden aus Angſt, weil wir hoffen,
daß die Reichsarmee uns vor Frankreich ſchützen wird, ſo ſehn
wir innre Schäden an allen Ecken, und jeder Preßbengel, der den
Mund gegen die Regirung aufreißt, hat Recht. Von den Fürſten¬
häuſern von Neapel bis Hanover wird uns keins unſre Liebe
danken, und wir üben an ihnen recht evangeliſche Feindesliebe, auf
Koſten der Sicherheit des eignen Thrones. Ich bin meinem Fürſten
treu bis in die Vendée, aber gegen alle andern fühle ich in keinem
Blutstropfen eine Spur von Verbindlichkeit, den Finger für ſie
aufzuheben. In dieſer Denkungsweiſe fürchte ich von der unſres
allergnädigſten Herrn ſo weit entfernt zu ſein, daß er mich ſchwerlich
zum Rathe ſeiner Krone geeignet finden wird. Deshalb wird er
mich, wenn überhaupt, lieber im Innern verwenden. Das bleibt
ſich aber m. E. ganz gleich, denn ich verſpreche mir von der
Geſammtregirung keine gedeihlichen Reſultate, wenn unſre aus¬
wärtige Haltung nicht kräftiger und unabhängiger von dynaſtiſchen
Sympathien wird, an denen wir aus Mangel an Selbſtvertrauen
eine Anlehnung ſuchen, die ſie nicht gewähren können und die wir
nicht brauchen. Wegen der Wahlen iſt es Schade, daß der Bruch
ſich grade ſo geſtaltet; die gut königliche Maſſe der Wähler wird
den Streit über die Huldigung nicht verſtehn, und die Demokratie
ihn entſtellen. Es wäre beſſer geweſen, in der Militärfrage ſtramm
zu halten gegen Kühne, mit der Kammer zu brechen, ſie aufzulöſen
und damit der Nation zu zeigen, wie der König zu den Leuten

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[244/0271] Elftes Kapitel: Zwiſchenzuſtand. glauben, daß eine lange und ſchwere Mißregirung das Volk gegen ſeine Obrigkeit ſo erbittert hätte, daß bei jedem Luftzug die Flamme auſſchlägt. Politiſche Unreife hat viel Antheil an dieſem Stolpern über Zwirnsfäden; aber ſeit vierzehn Jahren haben wir der Nation Geſchmack an Politik beigebracht, ihr aber den Appetit nicht be¬ friedigt, und ſie ſucht die Nahrung in den Goſſen. Wir ſind faſt ſo eitel wie die Franzoſen; können wir uns einreden, daß wir aus¬ wärts Anſehn haben, ſo laſſen wir uns im Hauſe viel gefallen; haben wir das Gefühl, daß jeder kleine Würzburger uns hänſelt und geringſchätzt und daß wir es dulden aus Angſt, weil wir hoffen, daß die Reichsarmee uns vor Frankreich ſchützen wird, ſo ſehn wir innre Schäden an allen Ecken, und jeder Preßbengel, der den Mund gegen die Regirung aufreißt, hat Recht. Von den Fürſten¬ häuſern von Neapel bis Hanover wird uns keins unſre Liebe danken, und wir üben an ihnen recht evangeliſche Feindesliebe, auf Koſten der Sicherheit des eignen Thrones. Ich bin meinem Fürſten treu bis in die Vendée, aber gegen alle andern fühle ich in keinem Blutstropfen eine Spur von Verbindlichkeit, den Finger für ſie aufzuheben. In dieſer Denkungsweiſe fürchte ich von der unſres allergnädigſten Herrn ſo weit entfernt zu ſein, daß er mich ſchwerlich zum Rathe ſeiner Krone geeignet finden wird. Deshalb wird er mich, wenn überhaupt, lieber im Innern verwenden. Das bleibt ſich aber m. E. ganz gleich, denn ich verſpreche mir von der Geſammtregirung keine gedeihlichen Reſultate, wenn unſre aus¬ wärtige Haltung nicht kräftiger und unabhängiger von dynaſtiſchen Sympathien wird, an denen wir aus Mangel an Selbſtvertrauen eine Anlehnung ſuchen, die ſie nicht gewähren können und die wir nicht brauchen. Wegen der Wahlen iſt es Schade, daß der Bruch ſich grade ſo geſtaltet; die gut königliche Maſſe der Wähler wird den Streit über die Huldigung nicht verſtehn, und die Demokratie ihn entſtellen. Es wäre beſſer geweſen, in der Militärfrage ſtramm zu halten gegen Kühne, mit der Kammer zu brechen, ſie aufzulöſen und damit der Nation zu zeigen, wie der König zu den Leuten

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Zitationshilfe: Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 1. Stuttgart, 1898, S. 244. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen01_1898/271>, abgerufen am 22.11.2024.