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Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 1. Stuttgart, 1898.

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Zehntes Kapitel: Petersburg.
auf die Entschließungen in Berlin einwirken zu können, ohne mir
klar zu machen, daß die übermäßigen Anstrengungen, die ich mir
zu diesem Zwecke in meiner Berichterstattung auferlegte, ganz
fruchtlos sein mußten, weil meine Immediatberichte und meine in
Form eigenhändiger Briefe gefaßten Mittheilungen entweder gar¬
nicht zur Kenntniß des Regenten gelangten oder mit Commentaren,
die jeden Eindruck hinderten. Meine Ausarbeitungen hatten außer
einer Complicirung der Krankheit, in welche ich durch ärztliche Ver¬
giftung gefallen war, nur die Folge, daß die Genauigkeit meiner
Berichte über die Stimmungen des Kaisers verdächtigt wurde, und
um mich zu controlliren, der Graf Münster, früher Militärbevoll¬
mächtigter in Petersburg, dorthin geschickt wurde. Ich war im
Stande, dem mir befreundeten Inspicienten zu beweisen, daß
meine Meldungen auf der Einsicht eigenhändiger Bemerkungen des
Kaisers am Rande der Berichte russischer Diplomaten beruhten, die
Gortschakow mir vorgelegt hatte, und daneben auf mündlichen Mit¬
theilungen persönlicher Freunde, die ich in dem Cabinet und am
Hofe besaß. Die eigenhändigen Marginalien des Kaisers waren
mir vielleicht mit berechneter Indiscretion vorgelegt worden, damit
ihr Inhalt auf diesem weniger verstimmenden Wege nach Berlin
gelangen sollte.

Diese und andre Formen, in denen ich von besonders wichtigen
Mittheilungen Kenntniß erhielt, sind charakteristisch für die damaligen
politischen Schachzüge. Ein Herr, welcher mir gelegentlich eine
solche vertraute, wandte sich beim Abschiede in der Thür um und
sagte: "Meine erste Indiscretion nöthigt mich zu einer zweiten.
Sie werden die Sache natürlich nach Berlin melden, benutzen Sie
aber dazu nicht Ihren Chiffre Nr. so und so, den besitzen wir seit
Jahren, und nach Lage der Dinge würde man bei uns auf mich
als Quelle schließen. Außerdem werden Sie mir den Gefallen
thun, den compromittirten Chiffre nicht plötzlich fallen zu lassen,
sondern ihn noch einige Monate lang zu unverfänglichen Tele¬
grammen zu benutzen." Damals glaubte ich zu meiner Beruhigung

Zehntes Kapitel: Petersburg.
auf die Entſchließungen in Berlin einwirken zu können, ohne mir
klar zu machen, daß die übermäßigen Anſtrengungen, die ich mir
zu dieſem Zwecke in meiner Berichterſtattung auferlegte, ganz
fruchtlos ſein mußten, weil meine Immediatberichte und meine in
Form eigenhändiger Briefe gefaßten Mittheilungen entweder gar¬
nicht zur Kenntniß des Regenten gelangten oder mit Commentaren,
die jeden Eindruck hinderten. Meine Ausarbeitungen hatten außer
einer Complicirung der Krankheit, in welche ich durch ärztliche Ver¬
giftung gefallen war, nur die Folge, daß die Genauigkeit meiner
Berichte über die Stimmungen des Kaiſers verdächtigt wurde, und
um mich zu controlliren, der Graf Münſter, früher Militärbevoll¬
mächtigter in Petersburg, dorthin geſchickt wurde. Ich war im
Stande, dem mir befreundeten Inſpicienten zu beweiſen, daß
meine Meldungen auf der Einſicht eigenhändiger Bemerkungen des
Kaiſers am Rande der Berichte ruſſiſcher Diplomaten beruhten, die
Gortſchakow mir vorgelegt hatte, und daneben auf mündlichen Mit¬
theilungen perſönlicher Freunde, die ich in dem Cabinet und am
Hofe beſaß. Die eigenhändigen Marginalien des Kaiſers waren
mir vielleicht mit berechneter Indiscretion vorgelegt worden, damit
ihr Inhalt auf dieſem weniger verſtimmenden Wege nach Berlin
gelangen ſollte.

Dieſe und andre Formen, in denen ich von beſonders wichtigen
Mittheilungen Kenntniß erhielt, ſind charakteriſtiſch für die damaligen
politiſchen Schachzüge. Ein Herr, welcher mir gelegentlich eine
ſolche vertraute, wandte ſich beim Abſchiede in der Thür um und
ſagte: „Meine erſte Indiscretion nöthigt mich zu einer zweiten.
Sie werden die Sache natürlich nach Berlin melden, benutzen Sie
aber dazu nicht Ihren Chiffre Nr. ſo und ſo, den beſitzen wir ſeit
Jahren, und nach Lage der Dinge würde man bei uns auf mich
als Quelle ſchließen. Außerdem werden Sie mir den Gefallen
thun, den compromittirten Chiffre nicht plötzlich fallen zu laſſen,
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grammen zu benutzen.“ Damals glaubte ich zu meiner Beruhigung

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[228/0255] Zehntes Kapitel: Petersburg. auf die Entſchließungen in Berlin einwirken zu können, ohne mir klar zu machen, daß die übermäßigen Anſtrengungen, die ich mir zu dieſem Zwecke in meiner Berichterſtattung auferlegte, ganz fruchtlos ſein mußten, weil meine Immediatberichte und meine in Form eigenhändiger Briefe gefaßten Mittheilungen entweder gar¬ nicht zur Kenntniß des Regenten gelangten oder mit Commentaren, die jeden Eindruck hinderten. Meine Ausarbeitungen hatten außer einer Complicirung der Krankheit, in welche ich durch ärztliche Ver¬ giftung gefallen war, nur die Folge, daß die Genauigkeit meiner Berichte über die Stimmungen des Kaiſers verdächtigt wurde, und um mich zu controlliren, der Graf Münſter, früher Militärbevoll¬ mächtigter in Petersburg, dorthin geſchickt wurde. Ich war im Stande, dem mir befreundeten Inſpicienten zu beweiſen, daß meine Meldungen auf der Einſicht eigenhändiger Bemerkungen des Kaiſers am Rande der Berichte ruſſiſcher Diplomaten beruhten, die Gortſchakow mir vorgelegt hatte, und daneben auf mündlichen Mit¬ theilungen perſönlicher Freunde, die ich in dem Cabinet und am Hofe beſaß. Die eigenhändigen Marginalien des Kaiſers waren mir vielleicht mit berechneter Indiscretion vorgelegt worden, damit ihr Inhalt auf dieſem weniger verſtimmenden Wege nach Berlin gelangen ſollte. Dieſe und andre Formen, in denen ich von beſonders wichtigen Mittheilungen Kenntniß erhielt, ſind charakteriſtiſch für die damaligen politiſchen Schachzüge. Ein Herr, welcher mir gelegentlich eine ſolche vertraute, wandte ſich beim Abſchiede in der Thür um und ſagte: „Meine erſte Indiscretion nöthigt mich zu einer zweiten. Sie werden die Sache natürlich nach Berlin melden, benutzen Sie aber dazu nicht Ihren Chiffre Nr. ſo und ſo, den beſitzen wir ſeit Jahren, und nach Lage der Dinge würde man bei uns auf mich als Quelle ſchließen. Außerdem werden Sie mir den Gefallen thun, den compromittirten Chiffre nicht plötzlich fallen zu laſſen, ſondern ihn noch einige Monate lang zu unverfänglichen Tele¬ grammen zu benutzen.“ Damals glaubte ich zu meiner Beruhigung

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Zitationshilfe: Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 1. Stuttgart, 1898, S. 228. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen01_1898/255>, abgerufen am 22.11.2024.