Und zwar so, daß er erst alle möglichen gewöhn¬ lichen Selbstmordgründe ablehnte, um schließlich als einzig zwingenden und berechtigten Grund den anzuführen: Es giebt kein Getränk mehr, das mich umbringen könnte, drum muß ick mir selber umbringen.
Nun zog er den Strick hervor und sang ihn als "Schnaps der Schnäpse" an. Während der Schlu߬ strophe warf er den Strick um einen Laternen¬ haken, und während der Vorhang fiel, legt er sich den Strick um den Hals.
Ich atmete auf, wie der Vorhang unten war. Das Publikum aber klatschte wie besessen. Nach einer Weile hob sich der Vorhang wieder, und ich sah, daß die Originalität unseres verflossenen Freundes auch als Tingeltangelsänger keine Grenzen kennt: Der Dichter hing an der Laterne und sang, ungeachtet des Einspruchs der Naturgesetze, in dieser Situation, röchelnd und nach Luft schnappend, sein Schwanenlied, eine schauerliche Mischung von Grausen, grotesker Komik und Cynismus. Dann ein letztes Schlenkern mit den Beinen, die Zunge weit heraus, dem Publikum entgegengestreckt, -- der Vorhang fiel. So oft er sich wieder unter dem Beifallgewieher des Publikums hob, sah man
Viertes Buch, viertes Kapitel.
Und zwar ſo, daß er erſt alle möglichen gewöhn¬ lichen Selbſtmordgründe ablehnte, um ſchließlich als einzig zwingenden und berechtigten Grund den anzuführen: Es giebt kein Getränk mehr, das mich umbringen könnte, drum muß ick mir ſelber umbringen.
Nun zog er den Strick hervor und ſang ihn als „Schnaps der Schnäpſe“ an. Während der Schlu߬ ſtrophe warf er den Strick um einen Laternen¬ haken, und während der Vorhang fiel, legt er ſich den Strick um den Hals.
Ich atmete auf, wie der Vorhang unten war. Das Publikum aber klatſchte wie beſeſſen. Nach einer Weile hob ſich der Vorhang wieder, und ich ſah, daß die Originalität unſeres verfloſſenen Freundes auch als Tingeltangelſänger keine Grenzen kennt: Der Dichter hing an der Laterne und ſang, ungeachtet des Einſpruchs der Naturgeſetze, in dieſer Situation, röchelnd und nach Luft ſchnappend, ſein Schwanenlied, eine ſchauerliche Miſchung von Grauſen, grotesker Komik und Cynismus. Dann ein letztes Schlenkern mit den Beinen, die Zunge weit heraus, dem Publikum entgegengeſtreckt, — der Vorhang fiel. So oft er ſich wieder unter dem Beifallgewieher des Publikums hob, ſah man
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0411"n="397"/><fwplace="top"type="header">Viertes Buch, viertes Kapitel.<lb/></fw> Und zwar ſo, daß er erſt alle möglichen gewöhn¬<lb/>
lichen Selbſtmordgründe ablehnte, um ſchließlich als<lb/>
einzig zwingenden und berechtigten Grund den<lb/>
anzuführen: Es giebt kein Getränk mehr, das<lb/>
mich umbringen könnte, drum muß ick mir ſelber<lb/>
umbringen.</p><lb/><p>Nun zog er den Strick hervor und ſang ihn als<lb/>„Schnaps der Schnäpſe“ an. Während der Schlu߬<lb/>ſtrophe warf er den Strick um einen Laternen¬<lb/>
haken, und während der Vorhang fiel, legt er ſich<lb/>
den Strick um den Hals.</p><lb/><p>Ich atmete auf, wie der Vorhang unten war.<lb/>
Das Publikum aber klatſchte wie beſeſſen. Nach<lb/>
einer Weile hob ſich der Vorhang wieder, und ich<lb/>ſah, daß die Originalität unſeres verfloſſenen<lb/>
Freundes auch als Tingeltangelſänger keine Grenzen<lb/>
kennt: Der Dichter hing an der Laterne und ſang,<lb/>
ungeachtet des Einſpruchs der Naturgeſetze, in dieſer<lb/>
Situation, röchelnd und nach Luft ſchnappend, ſein<lb/>
Schwanenlied, eine ſchauerliche Miſchung von<lb/>
Grauſen, grotesker Komik und Cynismus. Dann<lb/>
ein letztes Schlenkern mit den Beinen, die Zunge<lb/>
weit heraus, dem Publikum entgegengeſtreckt, —<lb/>
der Vorhang fiel. So oft er ſich wieder unter<lb/>
dem Beifallgewieher des Publikums hob, ſah man<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[397/0411]
Viertes Buch, viertes Kapitel.
Und zwar ſo, daß er erſt alle möglichen gewöhn¬
lichen Selbſtmordgründe ablehnte, um ſchließlich als
einzig zwingenden und berechtigten Grund den
anzuführen: Es giebt kein Getränk mehr, das
mich umbringen könnte, drum muß ick mir ſelber
umbringen.
Nun zog er den Strick hervor und ſang ihn als
„Schnaps der Schnäpſe“ an. Während der Schlu߬
ſtrophe warf er den Strick um einen Laternen¬
haken, und während der Vorhang fiel, legt er ſich
den Strick um den Hals.
Ich atmete auf, wie der Vorhang unten war.
Das Publikum aber klatſchte wie beſeſſen. Nach
einer Weile hob ſich der Vorhang wieder, und ich
ſah, daß die Originalität unſeres verfloſſenen
Freundes auch als Tingeltangelſänger keine Grenzen
kennt: Der Dichter hing an der Laterne und ſang,
ungeachtet des Einſpruchs der Naturgeſetze, in dieſer
Situation, röchelnd und nach Luft ſchnappend, ſein
Schwanenlied, eine ſchauerliche Miſchung von
Grauſen, grotesker Komik und Cynismus. Dann
ein letztes Schlenkern mit den Beinen, die Zunge
weit heraus, dem Publikum entgegengeſtreckt, —
der Vorhang fiel. So oft er ſich wieder unter
dem Beifallgewieher des Publikums hob, ſah man
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Bierbaum, Otto Julius: Stilpe. Ein Roman aus der Froschperspektive. Berlin, 1897, S. 397. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bierbaum_stilpe_1897/411>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.