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Bierbaum, Otto Julius: Stilpe. Ein Roman aus der Froschperspektive. Berlin, 1897.

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Viertes Buch, erstes Kapitel.

Auf der ersten Seite stand dies:

"Jede Pflichtgewohnheit ist gemein, also auch
das Lügen, als welche Kunst ich jetzt gewerbsmäßig
und, wie ich mir sagen darf, nicht ohne Be¬
gabung, aber ich will ja hier ehrlich sein, also:
Mit ungewöhnlichem Talente betreibe. Deshalb
will ich wenigstens zuweilen diese Gewohnheit
brechen und auf diesen Blättern die Wahrheit
sagen.

Daß ich auch dabei lügen werde, versteht sich am
Rande. Aber diese Lügen werden eine eigene und
amüsante Nüance haben.

Ich stelle es mir sehr anmutig differenziert
vor: Lügen, die Wahrheiten sein wollen, aber nicht
daran glauben, und Wahrheiten, die sich selber
keineswegs trauen, aber ihrer Lügenhaftigkeit immer¬
hin nicht ganz sicher sind und sich manchmal im
Stillen zweifelnd sagen: Wer weiß, am Ende sind
wir wirklich wahr?

Eine liebliche Sorte Schlinggewächs also, --
mein Gehirn mag eine ähnliche Struktur haben."

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Viertes Buch, erſtes Kapitel.

Auf der erſten Seite ſtand dies:

„Jede Pflichtgewohnheit iſt gemein, alſo auch
das Lügen, als welche Kunſt ich jetzt gewerbsmäßig
und, wie ich mir ſagen darf, nicht ohne Be¬
gabung, aber ich will ja hier ehrlich ſein, alſo:
Mit ungewöhnlichem Talente betreibe. Deshalb
will ich wenigſtens zuweilen dieſe Gewohnheit
brechen und auf dieſen Blättern die Wahrheit
ſagen.

Daß ich auch dabei lügen werde, verſteht ſich am
Rande. Aber dieſe Lügen werden eine eigene und
amüſante Nüance haben.

Ich ſtelle es mir ſehr anmutig differenziert
vor: Lügen, die Wahrheiten ſein wollen, aber nicht
daran glauben, und Wahrheiten, die ſich ſelber
keineswegs trauen, aber ihrer Lügenhaftigkeit immer¬
hin nicht ganz ſicher ſind und ſich manchmal im
Stillen zweifelnd ſagen: Wer weiß, am Ende ſind
wir wirklich wahr?

Eine liebliche Sorte Schlinggewächs alſo, —
mein Gehirn mag eine ähnliche Struktur haben.“

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[309/0323] Viertes Buch, erſtes Kapitel. Auf der erſten Seite ſtand dies: „Jede Pflichtgewohnheit iſt gemein, alſo auch das Lügen, als welche Kunſt ich jetzt gewerbsmäßig und, wie ich mir ſagen darf, nicht ohne Be¬ gabung, aber ich will ja hier ehrlich ſein, alſo: Mit ungewöhnlichem Talente betreibe. Deshalb will ich wenigſtens zuweilen dieſe Gewohnheit brechen und auf dieſen Blättern die Wahrheit ſagen. Daß ich auch dabei lügen werde, verſteht ſich am Rande. Aber dieſe Lügen werden eine eigene und amüſante Nüance haben. Ich ſtelle es mir ſehr anmutig differenziert vor: Lügen, die Wahrheiten ſein wollen, aber nicht daran glauben, und Wahrheiten, die ſich ſelber keineswegs trauen, aber ihrer Lügenhaftigkeit immer¬ hin nicht ganz ſicher ſind und ſich manchmal im Stillen zweifelnd ſagen: Wer weiß, am Ende ſind wir wirklich wahr? Eine liebliche Sorte Schlinggewächs alſo, — mein Gehirn mag eine ähnliche Struktur haben.“ [Abbildung]

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Zitationshilfe: Bierbaum, Otto Julius: Stilpe. Ein Roman aus der Froschperspektive. Berlin, 1897, S. 309. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bierbaum_stilpe_1897/323>, abgerufen am 18.05.2024.