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Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Dritter Band. Stuttgart, 1884.

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Stoff. Der Winter mit seinen Ostwinden und seinen Schneestürmen p3b_147.002
kommt ins Land gefahren. || Bei Nordlichtschein jagt der beutegierige p3b_147.003
durch unsere Steppen und fällt in unsere Hürden ein. || Er legt dem p3b_147.004
Lande seine Eisesfesseln an. || Jhn hindert weder das Sonnenlicht bei p3b_147.005
Tag, noch das blitzende Firmament bei Nacht. || Venus ist wie eine p3b_147.006
flammende Mondsichel anzusehen. || Und das Frührot ist duftumwallt: p3b_147.007
- wehe, daß es Arme giebt, wenn in der eisigen Kälte die Wolke p3b_147.008
zerstiebt. || Wehe, daß aus den Nordlichtgarben kein Korn zu dreschen p3b_147.009
ist. || Wehe, daß kein Obdachloser an dem ewigen Himmelsfeuer seine p3b_147.010
Hände wärmen kann. || Wehe, daß das Himmelsgewölbe das einzige p3b_147.011
Obdach für Kranke und Hungernde ist. || Wehe, daß so manche Kinder, p3b_147.012
Weiber und Greise ärmer daran sind, als die Vögel. || Wehe, daß p3b_147.013
inmitten unseres geselligen Getriebes, inmitten von Börsen, Bällen p3b_147.014
und Waffenspielen Obdachlose sich finden können. || Wehe über all' p3b_147.015
die alten Wunden der Menschheit. Auf, helft nach eurem Teil! || p3b_147.016
Ziehe hinaus, mein Lied, und erspähe warme Herzen. || Singe das p3b_147.017
Wort Liebe: nur die Liebe vermag die Welt zu heilen. ||

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3. Dieses für die großen Kreise des Volks bestimmte Gedicht muß volksmäßige p3b_147.019
Form erhalten, also volksliedartige Verse und Strophen, ähnlich etwa p3b_147.020
wie die wirksamen Volkslieder: Jnsbruck, ich muß dich lassen; Es wollt' ein p3b_147.021
Jäger jagen; Jch hört' ein Sichlein rauschen; Des Pfarrers Tochter von Taubenheim; p3b_147.022
Die Königskinder u. a. (Vgl. II, 83. 85. 86 dieser Poetik.)

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4. Diese eben genannten Volkslieder sind sämtlich aus jambischen Dreitaktern p3b_147.024
aufgebaut, für welche auch der obige Stoff besonders geeignet p3b_147.025
erscheint.

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5. Die kleinen volksmäßigen Strophen sollen aus je zwei Reimpaaren p3b_147.027
bestehen, von denen behufs Erreichung eines strophischen Charakteristikums immer p3b_147.028
das zweite männlichen Abschluß haben möge.

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Lösung. Von F. Freiligrath.

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[Beginn Spaltensatz]
Der Winter kommt gefahren, p3b_147.031
Er treibt die Welt zu Paaren, p3b_147.032
Der Ostwind ist sein Speer, p3b_147.033
Der Schneesturm sein Gewehr
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Mit eisbehangner Schleppe, p3b_147.035
Ein Beutefürst der Steppe, p3b_147.036
Fällt er bei Nordlichtschein p3b_147.037
Jn unsre Hürden ein.
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Und richtet seine Zelte, p3b_147.039
Und schlägt das Land mit Kälte, p3b_147.040
Und legt ihm, der Tyrann, p3b_147.041
Wildstarre Fesseln an.
[Spaltenumbruch] p3b_147.101
Derweil bei Tag die Sonne p3b_147.102
Strahlt herrlich und in Wonne, p3b_147.103
Und Nächtens ruhig brennt p3b_147.104
Und blitzt das Firmament.
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Venus mit prächt'gem Scheine, p3b_147.106
Beinah wie eine kleine p3b_147.107
Mondsichel anzusehn, p3b_147.108
Flammt nieder ernst und schön.
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Und o, des duftumwallten, p3b_147.110
Des knisternden, des kalten p3b_147.111
Frührots! Die Wolke stiebt! - p3b_147.112
Weh, daß es Arme giebt!
[Ende Spaltensatz]
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Stoff. Der Winter mit seinen Ostwinden und seinen Schneestürmen p3b_147.002
kommt ins Land gefahren. ‖ Bei Nordlichtschein jagt der beutegierige p3b_147.003
durch unsere Steppen und fällt in unsere Hürden ein. ‖ Er legt dem p3b_147.004
Lande seine Eisesfesseln an. ‖ Jhn hindert weder das Sonnenlicht bei p3b_147.005
Tag, noch das blitzende Firmament bei Nacht. ‖ Venus ist wie eine p3b_147.006
flammende Mondsichel anzusehen. ‖ Und das Frührot ist duftumwallt: p3b_147.007
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Obdach für Kranke und Hungernde ist. ‖ Wehe, daß so manche Kinder, p3b_147.012
Weiber und Greise ärmer daran sind, als die Vögel. ‖ Wehe, daß p3b_147.013
inmitten unseres geselligen Getriebes, inmitten von Börsen, Bällen p3b_147.014
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die alten Wunden der Menschheit. Auf, helft nach eurem Teil! ‖ p3b_147.016
Ziehe hinaus, mein Lied, und erspähe warme Herzen. ‖ Singe das p3b_147.017
Wort Liebe: nur die Liebe vermag die Welt zu heilen. ‖

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3. Dieses für die großen Kreise des Volks bestimmte Gedicht muß volksmäßige p3b_147.019
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Die Königskinder u. a. (Vgl. II, 83. 85. 86 dieser Poetik.)

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4. Diese eben genannten Volkslieder sind sämtlich aus jambischen Dreitaktern p3b_147.024
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5. Die kleinen volksmäßigen Strophen sollen aus je zwei Reimpaaren p3b_147.027
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das zweite männlichen Abschluß haben möge.

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Lösung. Von F. Freiligrath.

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Der Winter kommt gefahren, p3b_147.031
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[147/0173] p3b_147.001 Stoff. Der Winter mit seinen Ostwinden und seinen Schneestürmen p3b_147.002 kommt ins Land gefahren. ‖ Bei Nordlichtschein jagt der beutegierige p3b_147.003 durch unsere Steppen und fällt in unsere Hürden ein. ‖ Er legt dem p3b_147.004 Lande seine Eisesfesseln an. ‖ Jhn hindert weder das Sonnenlicht bei p3b_147.005 Tag, noch das blitzende Firmament bei Nacht. ‖ Venus ist wie eine p3b_147.006 flammende Mondsichel anzusehen. ‖ Und das Frührot ist duftumwallt: p3b_147.007 ─ wehe, daß es Arme giebt, wenn in der eisigen Kälte die Wolke p3b_147.008 zerstiebt. ‖ Wehe, daß aus den Nordlichtgarben kein Korn zu dreschen p3b_147.009 ist. ‖ Wehe, daß kein Obdachloser an dem ewigen Himmelsfeuer seine p3b_147.010 Hände wärmen kann. ‖ Wehe, daß das Himmelsgewölbe das einzige p3b_147.011 Obdach für Kranke und Hungernde ist. ‖ Wehe, daß so manche Kinder, p3b_147.012 Weiber und Greise ärmer daran sind, als die Vögel. ‖ Wehe, daß p3b_147.013 inmitten unseres geselligen Getriebes, inmitten von Börsen, Bällen p3b_147.014 und Waffenspielen Obdachlose sich finden können. ‖ Wehe über all' p3b_147.015 die alten Wunden der Menschheit. Auf, helft nach eurem Teil! ‖ p3b_147.016 Ziehe hinaus, mein Lied, und erspähe warme Herzen. ‖ Singe das p3b_147.017 Wort Liebe: nur die Liebe vermag die Welt zu heilen. ‖ p3b_147.018 3. Dieses für die großen Kreise des Volks bestimmte Gedicht muß volksmäßige p3b_147.019 Form erhalten, also volksliedartige Verse und Strophen, ähnlich etwa p3b_147.020 wie die wirksamen Volkslieder: Jnsbruck, ich muß dich lassen; Es wollt' ein p3b_147.021 Jäger jagen; Jch hört' ein Sichlein rauschen; Des Pfarrers Tochter von Taubenheim; p3b_147.022 Die Königskinder u. a. (Vgl. II, 83. 85. 86 dieser Poetik.) p3b_147.023 4. Diese eben genannten Volkslieder sind sämtlich aus jambischen Dreitaktern p3b_147.024 aufgebaut, für welche auch der obige Stoff besonders geeignet p3b_147.025 erscheint. p3b_147.026 5. Die kleinen volksmäßigen Strophen sollen aus je zwei Reimpaaren p3b_147.027 bestehen, von denen behufs Erreichung eines strophischen Charakteristikums immer p3b_147.028 das zweite männlichen Abschluß haben möge. p3b_147.029 Lösung. Von F. Freiligrath. p3b_147.030 Der Winter kommt gefahren, p3b_147.031 Er treibt die Welt zu Paaren, p3b_147.032 Der Ostwind ist sein Speer, p3b_147.033 Der Schneesturm sein Gewehr p3b_147.034 Mit eisbehangner Schleppe, p3b_147.035 Ein Beutefürst der Steppe, p3b_147.036 Fällt er bei Nordlichtschein p3b_147.037 Jn unsre Hürden ein. p3b_147.038 Und richtet seine Zelte, p3b_147.039 Und schlägt das Land mit Kälte, p3b_147.040 Und legt ihm, der Tyrann, p3b_147.041 Wildstarre Fesseln an. p3b_147.101 Derweil bei Tag die Sonne p3b_147.102 Strahlt herrlich und in Wonne, p3b_147.103 Und Nächtens ruhig brennt p3b_147.104 Und blitzt das Firmament. p3b_147.105 Venus mit prächt'gem Scheine, p3b_147.106 Beinah wie eine kleine p3b_147.107 Mondsichel anzusehn, p3b_147.108 Flammt nieder ernst und schön. p3b_147.109 Und o, des duftumwallten, p3b_147.110 Des knisternden, des kalten p3b_147.111 Frührots! Die Wolke stiebt! ─ p3b_147.112 Weh, daß es Arme giebt!

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Zitationshilfe: Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Dritter Band. Stuttgart, 1884, S. 147. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik03_1884/173>, abgerufen am 25.11.2024.