Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Dritter Band. Stuttgart, 1884.p3b_III.001 p3b_III.005 p3b_III.033 p3b_III.001 p3b_III.005 p3b_III.033 <TEI> <text> <front> <div n="1"> <p><pb facs="#f0013" n="RIII"/><lb n="p3b_III.001"/> und Feinheiten in den Kunstgriffen nachbildete, wer einsehen <lb n="p3b_III.002"/> lernte, wieviel zu einem guten Gedichte gehört, der wird sich zweifellos <lb n="p3b_III.003"/> ernstlich scheuen, dem im Geschmack gehobenen Publikum halbreife <lb n="p3b_III.004"/> Früchte aufzutischen.</p> <p><lb n="p3b_III.005"/> Viele meinen, daß ästhetisches Fühlen, genießendes Verständnis <lb n="p3b_III.006"/> der Dichter und dichterisches Hervorbringen gar keine besondere <lb n="p3b_III.007"/> Schulung nötig habe, während doch in Wahrheit die Dichtkunst, wenn <lb n="p3b_III.008"/> sie es zur Meisterschaft bringen will, die schwerste aller Künste ist, <lb n="p3b_III.009"/> weil sie zur Erfüllung ihrer höchsten Aufgaben eine größere Fülle und <lb n="p3b_III.010"/> Tiefe lebendigen Wissens und Könnens voraussetzt, als die andern <lb n="p3b_III.011"/> Künste, bei welchen die technischen Schwierigkeiten schon durch deren <lb n="p3b_III.012"/> handgreifliches Arbeitsmaterial mehr in die Augen springen. Aus <lb n="p3b_III.013"/> einem Marmorblocke eine Göttin oder aus den Farben einer Palette <lb n="p3b_III.014"/> ein schönes Bild hervorzuzaubern, erscheint dem Laien schwieriger, als <lb n="p3b_III.015"/> aus der unsichtbaren Sprache, die er selbst im Munde führt, ein schönes <lb n="p3b_III.016"/> Gedicht zu schaffen; denn er weiß nicht, daß die Sprache einem Dichter, <lb n="p3b_III.017"/> der nicht auf bereits ausgetretenen Bahnen wandelt, ein noch spröderer <lb n="p3b_III.018"/> Stoff ist, als dem Bildhauer der härteste Marmor (Bodenstedt). Die <lb n="p3b_III.019"/> Verskunst setzt energische Schulung voraus; sie muß, wie das Zeichnen, <lb n="p3b_III.020"/> das Malen, das Klavierspielen und die musikalische Komposition gründlich <lb n="p3b_III.021"/> erlernt und nachhaltig geübt werden. Ohne Anweisung, ohne <lb n="p3b_III.022"/> Abstraktion der Regeln aus den besseren Dichtwerken &c. hätten ja <lb n="p3b_III.023"/> auch die klassischen Dichter gewisse, aus der ältesten Zeit sich herschreibende <lb n="p3b_III.024"/> Gesetze der Dichtkunst so wenig geübt, als mancher Dichterling <lb n="p3b_III.025"/> unserer Tage oder die Dichter des 14. und 15. Jahrhunderts. <lb n="p3b_III.026"/> <hi rendition="#g">Goethe</hi> gesteht, daß seinen Meisterdichtungen recht ernstes Ringen, <lb n="p3b_III.027"/> rücksichtslose Selbstkritik und Belehrung seitens anderer vorausgegangen <lb n="p3b_III.028"/> seien; und <hi rendition="#g">Herder</hi> ist der Ansicht, daß die Poesie nicht die Domäne <lb n="p3b_III.029"/> einiger hervorragender Geister sei, sondern einer Gesamtheit, die wir <lb n="p3b_III.030"/> Volk nennen. <hi rendition="#g">Friedrich Rückert,</hi> dessen Ahnen Bauern waren, hat <lb n="p3b_III.031"/> eine unausgesetzte Schulung an sich vollzogen und sich zum klassischen <lb n="p3b_III.032"/> Dichter emporgerungen.</p> <p><lb n="p3b_III.033"/> Die Poesie ist eben nichts weniger als ein angeborenes Vorrecht <lb n="p3b_III.034"/> von nur wenigen Menschen. Fähigkeit und Anlage zur Poesie hat <lb n="p3b_III.035"/> der ewige Baumeister aller Welten in größerem oder geringerem Grade <lb n="p3b_III.036"/> in des Menschen Brust gelegt, und es kann daher ein jeder ─ ohne <lb n="p3b_III.037"/> Dichter werden zu wollen ─ ebenso gut einen gelungenen Vers bilden </p> </div> </front> </text> </TEI> [RIII/0013]
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und Feinheiten in den Kunstgriffen nachbildete, wer einsehen p3b_III.002
lernte, wieviel zu einem guten Gedichte gehört, der wird sich zweifellos p3b_III.003
ernstlich scheuen, dem im Geschmack gehobenen Publikum halbreife p3b_III.004
Früchte aufzutischen.
p3b_III.005
Viele meinen, daß ästhetisches Fühlen, genießendes Verständnis p3b_III.006
der Dichter und dichterisches Hervorbringen gar keine besondere p3b_III.007
Schulung nötig habe, während doch in Wahrheit die Dichtkunst, wenn p3b_III.008
sie es zur Meisterschaft bringen will, die schwerste aller Künste ist, p3b_III.009
weil sie zur Erfüllung ihrer höchsten Aufgaben eine größere Fülle und p3b_III.010
Tiefe lebendigen Wissens und Könnens voraussetzt, als die andern p3b_III.011
Künste, bei welchen die technischen Schwierigkeiten schon durch deren p3b_III.012
handgreifliches Arbeitsmaterial mehr in die Augen springen. Aus p3b_III.013
einem Marmorblocke eine Göttin oder aus den Farben einer Palette p3b_III.014
ein schönes Bild hervorzuzaubern, erscheint dem Laien schwieriger, als p3b_III.015
aus der unsichtbaren Sprache, die er selbst im Munde führt, ein schönes p3b_III.016
Gedicht zu schaffen; denn er weiß nicht, daß die Sprache einem Dichter, p3b_III.017
der nicht auf bereits ausgetretenen Bahnen wandelt, ein noch spröderer p3b_III.018
Stoff ist, als dem Bildhauer der härteste Marmor (Bodenstedt). Die p3b_III.019
Verskunst setzt energische Schulung voraus; sie muß, wie das Zeichnen, p3b_III.020
das Malen, das Klavierspielen und die musikalische Komposition gründlich p3b_III.021
erlernt und nachhaltig geübt werden. Ohne Anweisung, ohne p3b_III.022
Abstraktion der Regeln aus den besseren Dichtwerken &c. hätten ja p3b_III.023
auch die klassischen Dichter gewisse, aus der ältesten Zeit sich herschreibende p3b_III.024
Gesetze der Dichtkunst so wenig geübt, als mancher Dichterling p3b_III.025
unserer Tage oder die Dichter des 14. und 15. Jahrhunderts. p3b_III.026
Goethe gesteht, daß seinen Meisterdichtungen recht ernstes Ringen, p3b_III.027
rücksichtslose Selbstkritik und Belehrung seitens anderer vorausgegangen p3b_III.028
seien; und Herder ist der Ansicht, daß die Poesie nicht die Domäne p3b_III.029
einiger hervorragender Geister sei, sondern einer Gesamtheit, die wir p3b_III.030
Volk nennen. Friedrich Rückert, dessen Ahnen Bauern waren, hat p3b_III.031
eine unausgesetzte Schulung an sich vollzogen und sich zum klassischen p3b_III.032
Dichter emporgerungen.
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Die Poesie ist eben nichts weniger als ein angeborenes Vorrecht p3b_III.034
von nur wenigen Menschen. Fähigkeit und Anlage zur Poesie hat p3b_III.035
der ewige Baumeister aller Welten in größerem oder geringerem Grade p3b_III.036
in des Menschen Brust gelegt, und es kann daher ein jeder ─ ohne p3b_III.037
Dichter werden zu wollen ─ ebenso gut einen gelungenen Vers bilden
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