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Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Zweiter Band. Stuttgart, 1883.

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§ 196. Die Motette.

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Die Motette ist ein mehrstimmiger, fugenartiger oder figurierter, p2b_532.003
kirchlicher Chorgesang, welcher von einem Sängerchor ohne Jnstrumentalbegleitung p2b_532.004
in der Kirche vorgetragen wurde; den Text (Jnhalt) bildete p2b_532.005
ein Bibelspruch, oder auch ein frommer Spruch geistlichen Jnhalts, p2b_532.006
Sätze aus den Psalmen &c.

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Jhrem Text entsprechend enthält die Motette ein oder mehrere p2b_532.008
in den verschiedensten Formen auftretende Hauptmotive &c.

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Das Wort Motette (Motetto, Motet) leiten einige von mutare (Mutete) p2b_532.010
her, sofern die begleitenden Stimmen die Grundmelodie (cantus firmus) verändern p2b_532.011
oder wenden. Andere lassen es vom französischen Worte Mot (Sprüchlein, p2b_532.012
Bibelspruch) abstammen, sofern das Bibelwort (nämlich ein kurzer Bibelspruch) p2b_532.013
den Text bildete. Die Haltung der Motette und ihre Bewegung war von p2b_532.014
jeher ziemlich frei. Alle Künste des Kontrapunkts kamen in ihr zum Austrag, p2b_532.015
der Text wurde eine Zeit lang ganz als Nebensache behandelt, weshalb die p2b_532.016
Kirche mit Recht diese Art von Figuralmusik ausgeschlossen wissen wollte, bis p2b_532.017
Palestrina durch seine würdige Behandlung sie neu zur Bedeutung erhob und p2b_532.018
ihr Vollender Sebastian Bach ihr den Platz garantierte, den sie heute einnimmt. p2b_532.019
Da die Textsprüche der Motette ein Gemeingefühl ausdrücken, so ist p2b_532.020
es begreiflich, daß die Motette (die Zwittergattung der sog. kirchlichen Solo= p2b_532.021
Motetten der neueren Franzosen und Jtaliener ausgenommen) nur für Chor p2b_532.022
und zwar meist ohne Jnstrumentalbegleitung geschrieben wurde und wir in ihr p2b_532.023
hauptsächlich den polyphonen Stil als den geeigneten finden.

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Die Motette war schon dem alten Frank (Franco) von Köln bekannt, p2b_532.025
der im Jahre 1083 als Scholastikus an der Kathedralkirche zu Lüttich starb. p2b_532.026
Er kannte sie als Chor ohne Jnstrumentalbegleitung, welcher den Text aus p2b_532.027
der Bibel, seinen als Grundlage dienenden Tenor (cantus firmus) jedoch p2b_532.028
aus dem Gregorianischen Kirchengesang entlehnt hatte. Während eine Stimme p2b_532.029
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zu Motiven aus dem cantus firmus oder auch aus freier Erfindung durch und p2b_532.031
umgaben so den ernsten gehaltenen Kirchengesang mit lebhaften Verzierungen, p2b_532.032
die in ihrer unkünstlerischen wechselvollen Weise dem Papst Johann XXII. p2b_532.033
mit Recht als Verunzierungen auffallen mußten.

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Mit um so größerer Vorliebe hat die protestantische Kirche die Motette p2b_532.035
aufgenommen, die sich hier treu an das Bibelwort anschließen mußte, wobei p2b_532.036
sie sich im Cantus firmus mit einem Liedvers verschmelzen durfte. Luther, p2b_532.037
der für die Motetten Ludwig Senfls eine besondere Vorliebe empfand, sagt p2b_532.038
zum Preis der Musik in den Motetten: Jn welcher Musika vor allem das p2b_532.039
seltsam und zu verwundern ist, daß einer eine schlechte Weis oder Tenor hersinget, p2b_532.040
neben welcher 3, 4 oder 5 andere Stimmen auch gesungen werden, p2b_532.041
die um solche schlechte, einfältige Weise oder Tenor, gleich als mit Jauchzen p2b_532.042
rings herumher um solchen Tenor spielen und springen, und mit mancherlei

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Zitationshilfe: Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Zweiter Band. Stuttgart, 1883, S. 532. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik02_1883/554>, abgerufen am 23.11.2024.