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Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Zweiter Band. Stuttgart, 1883.

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§ 131. Bau des Romans.

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Der künstlerisch aufgebaute Roman hat mit dem Drama gleiche p2b_356.003
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Somit unterscheiden wir im Bau des Romans: Exposition, Versetzung p2b_356.005
in die Sache, Aneinanderstoßen der Begebenheiten, erregendes p2b_356.006
Moment, Bewegung, steigerndes Moment, Mitte, Höhepunkt, Schürzung p2b_356.007
des Knotens (Verwickelung), Konflikt, entscheidendes Moment, p2b_356.008
fallende Handlung, letzte Spannung, Katastrophe, Schluß.

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Wo dieser Gang nicht beachtet ist, wo die Steigerung zur Mitte und p2b_356.010
der Abfall zum Schluß fehlt &c., - ist der Roman kein Kunstwerk. Es ist p2b_356.011
das Ganze vielleicht eine Mitteilung der Lebensreise des Helden, eine Beschreibung p2b_356.012
und Schilderung seiner Erlebnisse, eine langatmige Erzählung, aber p2b_356.013
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Handlung besteht die Kunst des Romans, sondern im künstlerisch angeordneten p2b_356.015
Verlauf, im organischen Wachstum, in der ursachlichen Verbindung seiner p2b_356.016
symmetrisch aufgeführten Teile. Mit Recht sagt Mähly (Der Roman des 19. p2b_356.017
Jahrhunderts S. 8), daß die Strenge der Form das einzige Mittel sei, dem p2b_356.018
Roman zur Ebenbürtigkeit mit den übrigen Produkten der Phantasie zu verhelfen. p2b_356.019
An diesem Fels müsse der bloße Dilettant, der handwerksmäßige p2b_356.020
Pfuscher Schiffbruch leiden.

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§ 132. Der Held des Romans.

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1. Jeder Roman muß (wie das Drama) eine Hauptperson haben, p2b_356.023
auf welche sich, wie auf ein Centrum, alle Ereignisse mittelbar oder p2b_356.024
unmittelbar beziehen, ja, um die sich die übrigen Charaktere des Romans p2b_356.025
(vgl. § 133) gruppieren. Dieser Held ist nicht starr, feststehend, p2b_356.026
stereotyp, wie der Held im Drama, sondern er ist bildsam, entwickelungsfähig, p2b_356.027
er ist wie alle übrigen Charaktere des Romans im Werden begriffen.

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2. Der Held muß eine imponierende, großer Thaten fähige Figur p2b_356.030
sein.

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3. Er muß Eigenschaften besitzen, welche ihn unseres Jnteresses p2b_356.032
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4. Er darf keine erbärmliche Rolle spielen, auch dann nicht, wenn p2b_356.034
er der vom Schicksal geschaukelte passive Held ist.

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5. Die Schilderung des Helden, die nicht mit seiner Geburt zu p2b_356.036
beginnen braucht, muß naturgemäß, lückenlos fortschreiten.

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6. Die Liebe ist im Entwickelungsgang des Helden meist ein p2b_356.038
wichtiges Moment; am wichtigsten ist sie im Liebesroman.

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Der künstlerisch aufgebaute Roman hat mit dem Drama gleiche p2b_356.003
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Somit unterscheiden wir im Bau des Romans: Exposition, Versetzung p2b_356.005
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Wo dieser Gang nicht beachtet ist, wo die Steigerung zur Mitte und p2b_356.010
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Jahrhunderts S. 8), daß die Strenge der Form das einzige Mittel sei, dem p2b_356.018
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An diesem Fels müsse der bloße Dilettant, der handwerksmäßige p2b_356.020
Pfuscher Schiffbruch leiden.

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§ 132. Der Held des Romans.

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1. Jeder Roman muß (wie das Drama) eine Hauptperson haben, p2b_356.023
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er ist wie alle übrigen Charaktere des Romans im Werden begriffen.

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Zitationshilfe: Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Zweiter Band. Stuttgart, 1883, S. 356. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik02_1883/378>, abgerufen am 16.07.2024.