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Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Zweiter Band. Stuttgart, 1883.

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3. Seinen Ursprung hat das Märchen im noch ungebildeten Zustand p2b_255.002
der Menschheit, wo die Phantasie die Erscheinungen in der Natur zu erklären p2b_255.003
strebt, sie personifiziert. (Beispiel: Grimms Märchen: Strohhalm, Kohle und p2b_255.004
Bohne.)

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Es giebt kein Volk, bei dem nicht nach Verdrängen der alten heiligen p2b_255.006
Götter-Gestalten infolge des Eindringens eines neuen Glaubens diese Gestalten p2b_255.007
in anderer Form wieder aufgetaucht wären: - zunächst in der Sage als Helden, p2b_255.008
sodann aber in einer durch die Phantasie geschaffenen mythischen Märchenwelt, p2b_255.009
welche die ganze Natur mit all ihren Kräften benutzt.

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Wie der wirklichen Geschichte die Sage voraus geht, so steht allenthalben p2b_255.011
vor der Sage der Mythus. Jm Mythus waltete ursprünglich die p2b_255.012
Phantasie; dann in der Sage - die durch die Phantasie ergänzte oder alterierte p2b_255.013
Erinnerung; endlich in der Geschichte die bestimmte sich nicht irrende Erinnerung. p2b_255.014
(Diese in der Litteratur-Geschichte aller Nationen wiederkehrende Folge p2b_255.015
hat Görres in der Einleitung zum "Heldenbuch von Jran" [I. p. III. IV.] p2b_255.016
anschaulich nachgewiesen.)

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Der Rest und der Rückstand der sich allmählich verlierenden, entschwindenden p2b_255.018
Mythen (Mythologie) ist eben das Märchen, das überall erst mit dem Erlöschen p2b_255.019
der Mythen auftrat, nie aber, so lange die Mythen in lebendiger p2b_255.020
Geltung sich befanden. Die Mythen eines bestimmten Volkes, seine Erzählungen p2b_255.021
und Geschichten von der Gottheit (§ 107 d. Bds.), erhalten durch ihre Berührung p2b_255.022
mit der nationalen Sage nationales Gepräge. Wo die Mythe nicht p2b_255.023
mehr geglaubt wird und zusammenbricht, geht sie - wie erwähnt - in die p2b_255.024
Sage über, um sodann als Helden- oder Riesensage fortzuleben, oder sie entäußert p2b_255.025
sich unter Beibehaltung der allgemein menschlichen Anschauungsform alles p2b_255.026
Nationalen und wird zum Märchen. Dies ist die Entstehungsgeschichte der p2b_255.027
Märchen. Bei den Deutschen begann die Zeit der Märchen mit dem Eintritt p2b_255.028
des Christentums. Daher bezeichnet auch die jüngere Edda für den Norden p2b_255.029
den Wendepunkt in Glauben und Poesie. Die alten Götternamen mit dem ursprünglich p2b_255.030
in der Mythologie germanisch gewesenen Sagenhaften verschwanden. p2b_255.031
Aber das allgemein Menschliche blieb zurück und lebt noch heute als Rest p2b_255.032
unserer altdeutschen Mythologie im Christentum als deutsches Kinder- und Volksmärchen p2b_255.033
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4. Dadurch zeigt sich das Märchen im entschiedenen Gegensatz zur nationalen p2b_255.035
Sage, welche durchaus auf einer - wenn auch veränderten - Geschichte p2b_255.036
(auf einer meist mündlich geschichtlichen, erfahrungsmäßigen Tradition) p2b_255.037
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a. Die Sage giebt wenigstens immer noch Namen, Zeit und p2b_255.039
Ort, wenn auch falsch oder entstellt.

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Die Namen der Sage (z. B. Siegfried für einen früheren Gott) sollen p2b_255.041
doch in der Sage historisch erscheinen. Die Berge, Flüsse, Höhlen, in denen p2b_255.042
im Mythus die Götter wohnten, sollen in der Sage der Aufenthalt von p2b_255.043
Riesen und Helden sein.

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Das Märchen dagegen hat weder einen nationalen, noch einen historischen

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Zitationshilfe: Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Zweiter Band. Stuttgart, 1883, S. 255. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik02_1883/277>, abgerufen am 22.11.2024.