Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Zweiter Band. Stuttgart, 1883.p2b_219.001 p2b_219.008 Reaktion, von Fr. Rückert. p2b_219.010Vor zwanzig Jahren p2b_219.011 Dachten wir hoch zu fahren, p2b_219.012 Auf eigner Bahn, p2b_219.013 Jn Saus und Braus, p2b_219.014 All vornen hinan, p2b_219.015 All oben hinaus. p2b_219.016 Jetzt sind die Schwingen gebrochen, p2b_219.017 Wir sind zum Kreuze gekrochen, p2b_219.018 Bitten demütig, p2b_219.019 Flehmütig, wehmütig: p2b_219.020 Laßt uns im Haufen p2b_219.021 Nur auch mitlaufen! p2b_219.022 p2b_219.026 § 98. Wirkliches Lehrgedicht. p2b_219.030 p2b_219.035 p2b_219.037 p2b_219.001 p2b_219.008 Reaktion, von Fr. Rückert. p2b_219.010Vor zwanzig Jahren p2b_219.011 Dachten wir hoch zu fahren, p2b_219.012 Auf eigner Bahn, p2b_219.013 Jn Saus und Braus, p2b_219.014 All vornen hinan, p2b_219.015 All oben hinaus. p2b_219.016 Jetzt sind die Schwingen gebrochen, p2b_219.017 Wir sind zum Kreuze gekrochen, p2b_219.018 Bitten demütig, p2b_219.019 Flehmütig, wehmütig: p2b_219.020 Laßt uns im Haufen p2b_219.021 Nur auch mitlaufen! p2b_219.022 p2b_219.026 § 98. Wirkliches Lehrgedicht. p2b_219.030 p2b_219.035 p2b_219.037 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0241" n="219"/><lb n="p2b_219.001"/> didaktischen Betrachtungen gipfelnden Sirvent<hi rendition="#aq">ê</hi>sen (== Dienstgedichten) der Proven<hi rendition="#aq">ç</hi>alen, <lb n="p2b_219.002"/> dem Lyrischen entsprossen, das Lehrhafte in den Vordergrund stellt. <lb n="p2b_219.003"/> Der gewaltigste Lyriker des Mittelalters, Walther von der Vogelweide, räumte <lb n="p2b_219.004"/> in derartigen Gedichten dem Verstande nur soviel ein, als nötig für den gedanklichen <lb n="p2b_219.005"/> Aufbau des Gedichts war. Er bietet hier gewissermaßen die Form des <lb n="p2b_219.006"/> sog. Spruches, indem er jedem Gedicht nur <hi rendition="#g">eine</hi> Strophe, zuweilen von größerer <lb n="p2b_219.007"/> Ausdehnung und lang gestreckten unsangbaren Zeilen giebt.</p> <p> <lb n="p2b_219.008"/> <hi rendition="#g">Beispiel der kurzen lyrisch=didaktischen Formen.</hi> </p> <lb n="p2b_219.009"/> <p> <hi rendition="#c"> <hi rendition="#g">Reaktion, von Fr. Rückert.</hi> </hi> </p> <lb n="p2b_219.010"/> <lg> <l>Vor zwanzig Jahren</l> <lb n="p2b_219.011"/> <l>Dachten wir hoch zu fahren,</l> <lb n="p2b_219.012"/> <l>Auf eigner Bahn,</l> <lb n="p2b_219.013"/> <l>Jn Saus und Braus,</l> <lb n="p2b_219.014"/> <l>All vornen hinan,</l> <lb n="p2b_219.015"/> <l>All oben hinaus.</l> <lb n="p2b_219.016"/> <l>Jetzt sind die Schwingen gebrochen,</l> <lb n="p2b_219.017"/> <l>Wir sind zum Kreuze gekrochen,</l> <lb n="p2b_219.018"/> <l>Bitten demütig,</l> <lb n="p2b_219.019"/> <l>Flehmütig, wehmütig:</l> <lb n="p2b_219.020"/> <l>Laßt uns im Haufen</l> <lb n="p2b_219.021"/> <l>Nur auch mitlaufen!</l> </lg> <p><lb n="p2b_219.022"/> Einzelne derartige Gedichte, in denen der Jnhalt wenig bietet und in <lb n="p2b_219.023"/> mehr spruchartige präzise Form gedrängt ist, finden sich bei allen Dichtern, <lb n="p2b_219.024"/> besonders aber in Rückerts Liedern und Sprüchen. (Aus dem Nachlaß z B. <lb n="p2b_219.025"/> S. 87. 101. 102 &c.)</p> <p><lb n="p2b_219.026"/> Weitere Beispiele bieten die sogenannten Endreime (<hi rendition="#aq">Bouts-rimés</hi>). Vgl. <lb n="p2b_219.027"/> <hi rendition="#g">Rückerts:</hi> Aufgegebene Endreime (Auf dem Berg); Alois <hi rendition="#g">Schreibers:</hi> Das <lb n="p2b_219.028"/> neue Jahrhundert u. s. w.</p> </div> <lb n="p2b_219.029"/> <div n="4"> <head> <hi rendition="#c">§ 98. Wirkliches Lehrgedicht.</hi> </head> <p><lb n="p2b_219.030"/> 1. Das wirkliche Lehrgedicht ist die absichtsvolle poetische Darlegung <lb n="p2b_219.031"/> von Wahrheiten, die in Verwandtschaft und Beziehung zu <lb n="p2b_219.032"/> einander stehen und auf ein gemeinsames Ziel hinlenken. Sein Gegenstand <lb n="p2b_219.033"/> ist die Ausführung einer der Moral, der Wissenschaft, der Kunst, <lb n="p2b_219.034"/> der Religion, der Natur, dem Leben entstammenden Materie.</p> <p><lb n="p2b_219.035"/> 2. Es bedient sich zu seinem Aufbau je nach Bedürfnis der <lb n="p2b_219.036"/> Definition, der Jnduktion, der Analogie und der Jndividualisation.</p> <p><lb n="p2b_219.037"/> 1. Wenn im didaktischen Liede der Verstand durch das Gefühl in Schwingung <lb n="p2b_219.038"/> gebracht wird, so äußert in gerade umgekehrter Weise im wirklichen Lehrgedicht der <lb n="p2b_219.039"/> Verstand seine anregende Wirkung auf Gefühl und Phantasie. Das wirkliche <lb n="p2b_219.040"/> Lehrgedicht ist seinem Zweck nach ernster Natur, da das komische Lehrgedicht nur <lb n="p2b_219.041"/> Parodie ist.</p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [219/0241]
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didaktischen Betrachtungen gipfelnden Sirventêsen (== Dienstgedichten) der Provençalen, p2b_219.002
dem Lyrischen entsprossen, das Lehrhafte in den Vordergrund stellt. p2b_219.003
Der gewaltigste Lyriker des Mittelalters, Walther von der Vogelweide, räumte p2b_219.004
in derartigen Gedichten dem Verstande nur soviel ein, als nötig für den gedanklichen p2b_219.005
Aufbau des Gedichts war. Er bietet hier gewissermaßen die Form des p2b_219.006
sog. Spruches, indem er jedem Gedicht nur eine Strophe, zuweilen von größerer p2b_219.007
Ausdehnung und lang gestreckten unsangbaren Zeilen giebt.
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Beispiel der kurzen lyrisch=didaktischen Formen.
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Reaktion, von Fr. Rückert.
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Vor zwanzig Jahren p2b_219.011
Dachten wir hoch zu fahren, p2b_219.012
Auf eigner Bahn, p2b_219.013
Jn Saus und Braus, p2b_219.014
All vornen hinan, p2b_219.015
All oben hinaus. p2b_219.016
Jetzt sind die Schwingen gebrochen, p2b_219.017
Wir sind zum Kreuze gekrochen, p2b_219.018
Bitten demütig, p2b_219.019
Flehmütig, wehmütig: p2b_219.020
Laßt uns im Haufen p2b_219.021
Nur auch mitlaufen!
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Einzelne derartige Gedichte, in denen der Jnhalt wenig bietet und in p2b_219.023
mehr spruchartige präzise Form gedrängt ist, finden sich bei allen Dichtern, p2b_219.024
besonders aber in Rückerts Liedern und Sprüchen. (Aus dem Nachlaß z B. p2b_219.025
S. 87. 101. 102 &c.)
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Weitere Beispiele bieten die sogenannten Endreime (Bouts-rimés). Vgl. p2b_219.027
Rückerts: Aufgegebene Endreime (Auf dem Berg); Alois Schreibers: Das p2b_219.028
neue Jahrhundert u. s. w.
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§ 98. Wirkliches Lehrgedicht. p2b_219.030
1. Das wirkliche Lehrgedicht ist die absichtsvolle poetische Darlegung p2b_219.031
von Wahrheiten, die in Verwandtschaft und Beziehung zu p2b_219.032
einander stehen und auf ein gemeinsames Ziel hinlenken. Sein Gegenstand p2b_219.033
ist die Ausführung einer der Moral, der Wissenschaft, der Kunst, p2b_219.034
der Religion, der Natur, dem Leben entstammenden Materie.
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2. Es bedient sich zu seinem Aufbau je nach Bedürfnis der p2b_219.036
Definition, der Jnduktion, der Analogie und der Jndividualisation.
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1. Wenn im didaktischen Liede der Verstand durch das Gefühl in Schwingung p2b_219.038
gebracht wird, so äußert in gerade umgekehrter Weise im wirklichen Lehrgedicht der p2b_219.039
Verstand seine anregende Wirkung auf Gefühl und Phantasie. Das wirkliche p2b_219.040
Lehrgedicht ist seinem Zweck nach ernster Natur, da das komische Lehrgedicht nur p2b_219.041
Parodie ist.
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