p2b_196.001 1. Das lateinische Wort humor bedeutet jede Feuchtigkeit, jedes Naß, es p2b_196.002 sei Wasser, Milch, Wein oder Thränen. Humores hießen sodann im lateinischen p2b_196.003 Mittelalter die verschiedenen Maß- und Mischungsverhältnisse (krasis, temperamentum) p2b_196.004 von Feuchtigkeiten und von Wärme im menschlichen Organismus p2b_196.005 und die darauf beruhenden Charakterunterschiede der menschlichen Temperamente.
p2b_196.006 Bei uns bezeichnet das Wort Humor (vgl. Bd. I S. 105) eine die p2b_196.007 satirische Laune überragende, erheiternde Stimmung, welche in gutmeinender p2b_196.008 Weise die menschlichen Fehler als Schwachheiten und Fehltritte, nicht aber als p2b_196.009 Verbrechen betrachtet, sie daher wohlwollend, mitunter herzlich anteilnehmend in p2b_196.010 naiver Weise von ihrer komischen, lächerlichen Seite nimmt, über sie scherzt p2b_196.011 und sie gewissermaßen epikureisch=stoisch belächelt.
p2b_196.012 Nicht selten wird Humor mit Laune verwechselt. Die Engländer gebrauchen p2b_196.013 das Wort humour noch heute unserem Worte Laune entsprechend; p2b_196.014 in unserem Sinne wenden sie es nur an, wenn sie ihren Dichtern Shakespeare, p2b_196.015 Swift, Sterne u. a. Humor zuschreiben.
p2b_196.016 Der Humor steht höher, als die Laune. Er ist als Widerspruch zwischen p2b_196.017 Einbildung und Gemüt aufzufassen, insofern das Gemüt in Gegensatz zu den p2b_196.018 von der Einbildung aus der Wirklichkeit entlehnten, ihr nachgebildeten Anschauungen p2b_196.019 tritt; in solchen Konflikt und Kontrast mit der Einbildung stellt sich p2b_196.020 das Gemüt aber, wenn die Anschauungen nicht die entsprechenden Beziehungen p2b_196.021 nach Oben haben und nicht die gleiche edle Erhebung des Gefühls teilen. "Dann p2b_196.022 schwingt sich das Gemüt - um mit Wackernagel zu sprechen - empor und p2b_196.023 schaut hinab auf das gebrechliche, beschränkte Wesen da unten, halb voll Zorns, p2b_196.024 halb voll Mitleidens lächelnd, aber unter Thränen; tragisch, aber es führt p2b_196.025 zugleich die Versöhnung mit sich: es schwebt gleichsam wie die Taube über p2b_196.026 der Sündflut, Trost und Heil von oben verkündigend, während der gemütlose p2b_196.027 Spott eher dem ungetreu entweichenden Raben gleicht. Demnach ist dem Humor p2b_196.028 die Beziehung auf religiöse Dinge durchaus nicht fremd, ja, bei den besten p2b_196.029 Humoristen trägt er durchweg eine bald mehr bald minder hervorstechende p2b_196.030 religiöse Farbe: so bei Claudius, bei Hippel, bei Hamann, bei Jean Paul, p2b_196.031 bei Hebel; aus Hebels Gespräch auf der Straße nach Basel, die Vergänglichkeit, p2b_196.032 kann man beinahe eine ganz erschöpfende und vollkommen umfassende p2b_196.033 Theorie des Humors entwickeln; hier läßt sich die Entzweiung des Gemütes p2b_196.034 mit der Wirklichkeit von Stufe zu Stufe fortschreitend verfolgen bis zu der p2b_196.035 letzten und höchsten, wo vom Himmel selbst hinunter die seligen Geister auf p2b_196.036 die arme vergangene Erde schauen und auf ihr das Dörflein suchen, in welchem p2b_196.037 sie, da sie auch noch Menschen waren, ihr Leben hindurch 'gvätterlet' haben."
p2b_196.038 Der Humor als Feind des Abstrakten bewahrt vor Verzweiflung, die p2b_196.039 nur da Platz greift, wo der Mensch den Humor verloren hat.
p2b_196.040 Das Tragische des Humors geht aus dem Schmerzgefühl hervor, daß p2b_196.041 wir selbst mitten in der Unvollkommenheit leben, in die Schranken des Jrdischen p2b_196.042 gebannt sind, selbst an den Krankheiten der Zeit leiden.
p2b_196.043 Das Komische des Humors aber entspringt aus dem Gefühle, daß wir p2b_196.044 zugleich auch über diesen Schranken stehen. Beide Gefühle wechseln und durchdringen
p2b_196.001 1. Das lateinische Wort humor bedeutet jede Feuchtigkeit, jedes Naß, es p2b_196.002 sei Wasser, Milch, Wein oder Thränen. Humores hießen sodann im lateinischen p2b_196.003 Mittelalter die verschiedenen Maß- und Mischungsverhältnisse (κρᾶσις, temperamentum) p2b_196.004 von Feuchtigkeiten und von Wärme im menschlichen Organismus p2b_196.005 und die darauf beruhenden Charakterunterschiede der menschlichen Temperamente.
p2b_196.006 Bei uns bezeichnet das Wort Humor (vgl. Bd. I S. 105) eine die p2b_196.007 satirische Laune überragende, erheiternde Stimmung, welche in gutmeinender p2b_196.008 Weise die menschlichen Fehler als Schwachheiten und Fehltritte, nicht aber als p2b_196.009 Verbrechen betrachtet, sie daher wohlwollend, mitunter herzlich anteilnehmend in p2b_196.010 naiver Weise von ihrer komischen, lächerlichen Seite nimmt, über sie scherzt p2b_196.011 und sie gewissermaßen epikureisch=stoisch belächelt.
p2b_196.012 Nicht selten wird Humor mit Laune verwechselt. Die Engländer gebrauchen p2b_196.013 das Wort humour noch heute unserem Worte Laune entsprechend; p2b_196.014 in unserem Sinne wenden sie es nur an, wenn sie ihren Dichtern Shakespeare, p2b_196.015 Swift, Sterne u. a. Humor zuschreiben.
p2b_196.016 Der Humor steht höher, als die Laune. Er ist als Widerspruch zwischen p2b_196.017 Einbildung und Gemüt aufzufassen, insofern das Gemüt in Gegensatz zu den p2b_196.018 von der Einbildung aus der Wirklichkeit entlehnten, ihr nachgebildeten Anschauungen p2b_196.019 tritt; in solchen Konflikt und Kontrast mit der Einbildung stellt sich p2b_196.020 das Gemüt aber, wenn die Anschauungen nicht die entsprechenden Beziehungen p2b_196.021 nach Oben haben und nicht die gleiche edle Erhebung des Gefühls teilen. „Dann p2b_196.022 schwingt sich das Gemüt ─ um mit Wackernagel zu sprechen ─ empor und p2b_196.023 schaut hinab auf das gebrechliche, beschränkte Wesen da unten, halb voll Zorns, p2b_196.024 halb voll Mitleidens lächelnd, aber unter Thränen; tragisch, aber es führt p2b_196.025 zugleich die Versöhnung mit sich: es schwebt gleichsam wie die Taube über p2b_196.026 der Sündflut, Trost und Heil von oben verkündigend, während der gemütlose p2b_196.027 Spott eher dem ungetreu entweichenden Raben gleicht. Demnach ist dem Humor p2b_196.028 die Beziehung auf religiöse Dinge durchaus nicht fremd, ja, bei den besten p2b_196.029 Humoristen trägt er durchweg eine bald mehr bald minder hervorstechende p2b_196.030 religiöse Farbe: so bei Claudius, bei Hippel, bei Hamann, bei Jean Paul, p2b_196.031 bei Hebel; aus Hebels Gespräch auf der Straße nach Basel, die Vergänglichkeit, p2b_196.032 kann man beinahe eine ganz erschöpfende und vollkommen umfassende p2b_196.033 Theorie des Humors entwickeln; hier läßt sich die Entzweiung des Gemütes p2b_196.034 mit der Wirklichkeit von Stufe zu Stufe fortschreitend verfolgen bis zu der p2b_196.035 letzten und höchsten, wo vom Himmel selbst hinunter die seligen Geister auf p2b_196.036 die arme vergangene Erde schauen und auf ihr das Dörflein suchen, in welchem p2b_196.037 sie, da sie auch noch Menschen waren, ihr Leben hindurch 'gvätterlet' haben.“
p2b_196.038 Der Humor als Feind des Abstrakten bewahrt vor Verzweiflung, die p2b_196.039 nur da Platz greift, wo der Mensch den Humor verloren hat.
p2b_196.040 Das Tragische des Humors geht aus dem Schmerzgefühl hervor, daß p2b_196.041 wir selbst mitten in der Unvollkommenheit leben, in die Schranken des Jrdischen p2b_196.042 gebannt sind, selbst an den Krankheiten der Zeit leiden.
p2b_196.043 Das Komische des Humors aber entspringt aus dem Gefühle, daß wir p2b_196.044 zugleich auch über diesen Schranken stehen. Beide Gefühle wechseln und durchdringen
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1. Das lateinische Wort humor bedeutet jede Feuchtigkeit, jedes Naß, es p2b_196.002
sei Wasser, Milch, Wein oder Thränen. Humores hießen sodann im lateinischen p2b_196.003
Mittelalter die verschiedenen Maß- und Mischungsverhältnisse (κρᾶσις, temperamentum) p2b_196.004
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Bei uns bezeichnet das Wort Humor (vgl. Bd. I S. 105) eine die p2b_196.007
satirische Laune überragende, erheiternde Stimmung, welche in gutmeinender p2b_196.008
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naiver Weise von ihrer komischen, lächerlichen Seite nimmt, über sie scherzt p2b_196.011
und sie gewissermaßen epikureisch=stoisch belächelt.
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Nicht selten wird Humor mit Laune verwechselt. Die Engländer gebrauchen p2b_196.013
das Wort humour noch heute unserem Worte Laune entsprechend; p2b_196.014
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Der Humor steht höher, als die Laune. Er ist als Widerspruch zwischen p2b_196.017
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Spott eher dem ungetreu entweichenden Raben gleicht. Demnach ist dem Humor p2b_196.028
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Humoristen trägt er durchweg eine bald mehr bald minder hervorstechende p2b_196.030
religiöse Farbe: so bei Claudius, bei Hippel, bei Hamann, bei Jean Paul, p2b_196.031
bei Hebel; aus Hebels Gespräch auf der Straße nach Basel, die Vergänglichkeit, p2b_196.032
kann man beinahe eine ganz erschöpfende und vollkommen umfassende p2b_196.033
Theorie des Humors entwickeln; hier läßt sich die Entzweiung des Gemütes p2b_196.034
mit der Wirklichkeit von Stufe zu Stufe fortschreitend verfolgen bis zu der p2b_196.035
letzten und höchsten, wo vom Himmel selbst hinunter die seligen Geister auf p2b_196.036
die arme vergangene Erde schauen und auf ihr das Dörflein suchen, in welchem p2b_196.037
sie, da sie auch noch Menschen waren, ihr Leben hindurch 'gvätterlet' haben.“
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Der Humor als Feind des Abstrakten bewahrt vor Verzweiflung, die p2b_196.039
nur da Platz greift, wo der Mensch den Humor verloren hat.
p2b_196.040
Das Tragische des Humors geht aus dem Schmerzgefühl hervor, daß p2b_196.041
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Das Komische des Humors aber entspringt aus dem Gefühle, daß wir p2b_196.044
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Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Zweiter Band. Stuttgart, 1883, S. 196. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik02_1883/218>, abgerufen am 24.11.2024.
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