Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Zweiter Band. Stuttgart, 1883.p2b_152.001 § 76. Nänie.
p2b_152.002 p2b_152.005 p2b_152.007 p2b_152.013 p2b_152.016 p2b_152.020 p2b_152.026 p2b_152.029 Nenie von Schiller. p2b_152.031Auch das Schöne muß sterben, das Menschen und Götter bezwinget! p2b_152.032 Nicht die eherne Brust rührt es des stygischen Zeus. p2b_152.033 Einmal nur erweichte die Liebe den Schattenbeherrscher, p2b_152.034 Und an der Schwelle noch, streng, rief er zurück sein Geschenk. p2b_152.035 Nicht stillt Aphrodite dem schönen Knaben die Wunde, p2b_152.036 Die in den zierlichen Leib grausam der Eber geritzt. p2b_152.037 Nicht errettet den göttlichen Held die unsterbliche Mutter, p2b_152.038 Wenn er, am skäischen Thor fallend, sein Schicksal erfüllt. p2b_152.039 Aber sie steigt aus dem Meer mit allen Töchtern des Nereus, p2b_152.040 Und die Klage hebt an um den verherrlichten Sohn. p2b_152.041 Siehe, da weinen die Götter, es weinen die Göttinnen alle, p2b_152.042 Daß das Schöne vergeht, daß das Vollkommene stirbt. p2b_152.043 Auch ein Klaglied zu sein im Mund der Geliebten, ist herrlich, p2b_152.044 Denn das Gemeine geht klanglos zum Orkus hinab. p2b_152.001 § 76. Nänie.
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Nänie.</hi> </head> <p><lb n="p2b_152.002"/> 1. Eine kleine Elegie, die sogar etwas Unbedeutendes, Kleinliches <lb n="p2b_152.003"/> zum Gegenstand haben kann (indem sie z. B. ein Tierchen beklagt), <lb n="p2b_152.004"/> heißt Nänie.</p> <p><lb n="p2b_152.005"/> 2. Sonst versteht man darunter noch Lobgedichte zu Ehren Verstorbener, <lb n="p2b_152.006"/> sowie kleine Klagelieder, kleine Elegien.</p> <p><lb n="p2b_152.007"/> 1. Die Nänien (<hi rendition="#aq">Neniae, Naeniae</hi>) entsprachen in der römischen Litteratur <lb n="p2b_152.008"/> den Threnoi (<foreign xml:lang="grc">θρῆνοι</foreign>) der Griechen nur in Hinsicht auf die Veranlassung. Sie <lb n="p2b_152.009"/> waren zuweilen Klagelieder. So nannten die alten Römer besonders das Klagegeheul <lb n="p2b_152.010"/> gedungener Weiber bei Begräbnissen Nänia. Dieses war gewöhnlich ganz <lb n="p2b_152.011"/> sinnlos und ohne Zusammenhang. Auch ein kindisches Lied oder ein Wiegengesang <lb n="p2b_152.012"/> wurde von ihnen Nänie genannt.</p> <p><lb n="p2b_152.013"/> 2. Jn der Regel aber waren die Nänien Lieder zum Ruhm der Gestorbenen. <lb n="p2b_152.014"/> Man sang sie bei Gastmählern und Leichenfeierlichkeiten, und begleitete sie mit <lb n="p2b_152.015"/> der Flöte. (Vgl. Niebuhr, röm. Geschichte S. 146. 1853.)</p> <p><lb n="p2b_152.016"/> Ähnliche Loblieder hatten auch die Hebräer (z. B. „das Lied, das David <lb n="p2b_152.017"/> redete vor dem Herrn, als ihn der Herr errettet hatte von der Hand aller <lb n="p2b_152.018"/> seiner Feinde“, sowie 1. Chron. 17., ferner Richter 5., ein Lied der Debora <lb n="p2b_152.019"/> nach dem Siege über Sissera).</p> <p><lb n="p2b_152.020"/> Neben diesen Lobgesängen hatten die Hebräer auch ihre Threnen, z. B. <lb n="p2b_152.021"/> das Klagelied Davids auf Saul und Jonathan. Die Klagelieder Jeremias <lb n="p2b_152.022"/> mit ihrem politischen Jnhalt (solchen hatten auch die ältesten griechischen Elegien) <lb n="p2b_152.023"/> und mit ihrem Gefühls-Ausdruck der Wehmut, des Schmerzes, die in der <lb n="p2b_152.024"/> griechischen und lateinischen Übersetzung <hi rendition="#aq">Threnos (<foreign xml:lang="grc">θρῆνος</foreign></hi>) genannt werden, <lb n="p2b_152.025"/> sind für diese Bezeichnung nicht episch genug.</p> <p><lb n="p2b_152.026"/> Bei den Deutschen ist Nänie ein kleines Klagelied. Ramler hat Nänien <lb n="p2b_152.027"/> auf den Tod einer Wachtel sowie auf den einer Nachtigall gedichtet. Schiller <lb n="p2b_152.028"/> setzt nicht selten ohne weiteres Nenie für Elegie.</p> <p> <lb n="p2b_152.029"/> <hi rendition="#g">Beispiel der Nänie:</hi> </p> <lb n="p2b_152.030"/> <p> <hi rendition="#c"> <hi rendition="#g">Nenie von Schiller.</hi> </hi> </p> <lb n="p2b_152.031"/> <lg> <l>Auch das Schöne muß sterben, das Menschen und Götter bezwinget!</l> <lb n="p2b_152.032"/> <l> Nicht die eherne Brust rührt es des stygischen Zeus.</l> <lb n="p2b_152.033"/> <l>Einmal nur erweichte die Liebe den Schattenbeherrscher,</l> <lb n="p2b_152.034"/> <l> Und an der Schwelle noch, streng, rief er zurück sein Geschenk.</l> <lb n="p2b_152.035"/> <l>Nicht stillt Aphrodite dem schönen Knaben die Wunde,</l> <lb n="p2b_152.036"/> <l> Die in den zierlichen Leib grausam der Eber geritzt.</l> <lb n="p2b_152.037"/> <l>Nicht errettet den göttlichen Held die unsterbliche Mutter,</l> <lb n="p2b_152.038"/> <l> Wenn er, am skäischen Thor fallend, sein Schicksal erfüllt.</l> <lb n="p2b_152.039"/> <l>Aber sie steigt aus dem Meer mit allen Töchtern des Nereus,</l> <lb n="p2b_152.040"/> <l> Und die Klage hebt an um den verherrlichten Sohn.</l> <lb n="p2b_152.041"/> <l>Siehe, da weinen die Götter, es weinen die Göttinnen alle,</l> <lb n="p2b_152.042"/> <l> Daß das Schöne vergeht, daß das Vollkommene stirbt.</l> <lb n="p2b_152.043"/> <l>Auch ein Klaglied zu sein im Mund der Geliebten, ist herrlich,</l> <lb n="p2b_152.044"/> <l> Denn das Gemeine geht klanglos zum Orkus hinab.</l> </lg> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [152/0174]
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§ 76. Nänie. p2b_152.002
1. Eine kleine Elegie, die sogar etwas Unbedeutendes, Kleinliches p2b_152.003
zum Gegenstand haben kann (indem sie z. B. ein Tierchen beklagt), p2b_152.004
heißt Nänie.
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2. Sonst versteht man darunter noch Lobgedichte zu Ehren Verstorbener, p2b_152.006
sowie kleine Klagelieder, kleine Elegien.
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1. Die Nänien (Neniae, Naeniae) entsprachen in der römischen Litteratur p2b_152.008
den Threnoi (θρῆνοι) der Griechen nur in Hinsicht auf die Veranlassung. Sie p2b_152.009
waren zuweilen Klagelieder. So nannten die alten Römer besonders das Klagegeheul p2b_152.010
gedungener Weiber bei Begräbnissen Nänia. Dieses war gewöhnlich ganz p2b_152.011
sinnlos und ohne Zusammenhang. Auch ein kindisches Lied oder ein Wiegengesang p2b_152.012
wurde von ihnen Nänie genannt.
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2. Jn der Regel aber waren die Nänien Lieder zum Ruhm der Gestorbenen. p2b_152.014
Man sang sie bei Gastmählern und Leichenfeierlichkeiten, und begleitete sie mit p2b_152.015
der Flöte. (Vgl. Niebuhr, röm. Geschichte S. 146. 1853.)
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Ähnliche Loblieder hatten auch die Hebräer (z. B. „das Lied, das David p2b_152.017
redete vor dem Herrn, als ihn der Herr errettet hatte von der Hand aller p2b_152.018
seiner Feinde“, sowie 1. Chron. 17., ferner Richter 5., ein Lied der Debora p2b_152.019
nach dem Siege über Sissera).
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Neben diesen Lobgesängen hatten die Hebräer auch ihre Threnen, z. B. p2b_152.021
das Klagelied Davids auf Saul und Jonathan. Die Klagelieder Jeremias p2b_152.022
mit ihrem politischen Jnhalt (solchen hatten auch die ältesten griechischen Elegien) p2b_152.023
und mit ihrem Gefühls-Ausdruck der Wehmut, des Schmerzes, die in der p2b_152.024
griechischen und lateinischen Übersetzung Threnos (θρῆνος) genannt werden, p2b_152.025
sind für diese Bezeichnung nicht episch genug.
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Bei den Deutschen ist Nänie ein kleines Klagelied. Ramler hat Nänien p2b_152.027
auf den Tod einer Wachtel sowie auf den einer Nachtigall gedichtet. Schiller p2b_152.028
setzt nicht selten ohne weiteres Nenie für Elegie.
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Beispiel der Nänie:
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Nenie von Schiller.
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Auch das Schöne muß sterben, das Menschen und Götter bezwinget! p2b_152.032
Nicht die eherne Brust rührt es des stygischen Zeus. p2b_152.033
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Nicht errettet den göttlichen Held die unsterbliche Mutter, p2b_152.038
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Auch ein Klaglied zu sein im Mund der Geliebten, ist herrlich, p2b_152.044
Denn das Gemeine geht klanglos zum Orkus hinab.
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