Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Erster Band. Stuttgart, 1882.

Bild:
<< vorherige Seite

p1b_721.001
von Aue, Der tugendhafte Schreiber); die beiden letzteren Formen p1b_721.002
finden sich in gleicher Häufigkeit. Die älteren Formen dieser zwölfzeiligen p1b_721.003
Strophen sind so planvoll und so architektonisch verständnisvoll p1b_721.004
aufgebaut, wie wir etwas Ähnliches bei den Neueren nicht nachzuweisen p1b_721.005
vermögen. Zum Beweis geben wir übersetzt nur eines von p1b_721.006
den vielen Beispielen:

p1b_721.007
Jahrlang will die Linde p1b_721.008
vom Winde p1b_721.009
sich velwen, (== entfärben.) p1b_721.010
Die sich vor dem Walde p1b_721.011
zu balde p1b_721.012
kann velwen; p1b_721.013
Trauren auf der Heide p1b_721.014
mit Leide p1b_721.015
man übet: p1b_721.016
so hat mir die Minne p1b_721.017
die Sinne p1b_721.018
betrübet.

(Konrad von Würzburg.)

p1b_721.019
Welch reiche Kombinationszahl bei der zwölfzeiligen Strophe möglich ist, p1b_721.020
ergiebt schon der Hinblick auf die Kombinationsmöglichkeit der achtzeiligen. p1b_721.021
Die neu hinzukommenden 15 Kombinationen der letzten 4 Zeilen können einzeln p1b_721.022
an die 225 Kombinationen der achtzeiligen Strophe angefügt werden, wodurch p1b_721.023
sich 15 x 225 == 3375 Kombinationen ergeben, die noch durch eine Durchsetzung p1b_721.024
der einzelnen Zeilen mit reimlosen Zeilen erheblich vermehrt werden.

p1b_721.025

Formen der zwölfzeiligen Strophe.

p1b_721.026
1. a a b c c b d e e b d d.

p1b_721.027
Beispiel: Rost von Sarnen (Hagens Minnes. II. 133. 8).

p1b_721.028
2. a a b c c b d e f d e f.

p1b_721.029
Diese von Walther von der Vogelweide (Hagens Minnes. I. 271. 79) p1b_721.030
gebrauchte Strophe hat Rückert mit charakteristisch verlängerter Schlußzeile angewandt.

p1b_721.031

p1b_721.032
Beispiel:

p1b_721.033
Der Ritterbote Steigemeier p1b_721.034
Hat auch am Feiertag nicht Feier, p1b_721.035
Stets hat er umzusteigen, p1b_721.036
Jn drei verschiedenen Kantonen, p1b_721.037
Wo die verschiednen Ritter wohnen, p1b_721.038
Abwechselnd sich zu zeigen, p1b_721.039
Jn dem Kantone Steigerwald, p1b_721.040
Jn dem von Rhön und Werre, p1b_721.041
(Und Baunach heißt der dritte) p1b_721.042
Bald ist er hüben, drüben bald; p1b_721.043
Weil unser gnäd'ger Herre p1b_721.044
Hier wohnet recht in aller dreien Mitte.

(Rückert.)

p1b_721.001
von Aue, Der tugendhafte Schreiber); die beiden letzteren Formen p1b_721.002
finden sich in gleicher Häufigkeit. Die älteren Formen dieser zwölfzeiligen p1b_721.003
Strophen sind so planvoll und so architektonisch verständnisvoll p1b_721.004
aufgebaut, wie wir etwas Ähnliches bei den Neueren nicht nachzuweisen p1b_721.005
vermögen. Zum Beweis geben wir übersetzt nur eines von p1b_721.006
den vielen Beispielen:

p1b_721.007
Jahrlang will die Linde p1b_721.008
vom Winde p1b_721.009
sich velwen, (== entfärben.) p1b_721.010
Die sich vor dem Walde p1b_721.011
zu balde p1b_721.012
kann velwen; p1b_721.013
Trauren auf der Heide p1b_721.014
mit Leide p1b_721.015
man übet: p1b_721.016
so hat mir die Minne p1b_721.017
die Sinne p1b_721.018
betrübet.

(Konrad von Würzburg.)

p1b_721.019
Welch reiche Kombinationszahl bei der zwölfzeiligen Strophe möglich ist, p1b_721.020
ergiebt schon der Hinblick auf die Kombinationsmöglichkeit der achtzeiligen. p1b_721.021
Die neu hinzukommenden 15 Kombinationen der letzten 4 Zeilen können einzeln p1b_721.022
an die 225 Kombinationen der achtzeiligen Strophe angefügt werden, wodurch p1b_721.023
sich 15 × 225 == 3375 Kombinationen ergeben, die noch durch eine Durchsetzung p1b_721.024
der einzelnen Zeilen mit reimlosen Zeilen erheblich vermehrt werden.

p1b_721.025

Formen der zwölfzeiligen Strophe.

p1b_721.026
1. a a b c c b d e e b d d.

p1b_721.027
Beispiel: Rost von Sarnen (Hagens Minnes. II. 133. 8).

p1b_721.028
2. a a b c c b d e f d e f.

p1b_721.029
Diese von Walther von der Vogelweide (Hagens Minnes. I. 271. 79) p1b_721.030
gebrauchte Strophe hat Rückert mit charakteristisch verlängerter Schlußzeile angewandt.

p1b_721.031

p1b_721.032
Beispiel:

p1b_721.033
Der Ritterbote Steigemeier p1b_721.034
Hat auch am Feiertag nicht Feier, p1b_721.035
Stets hat er umzusteigen, p1b_721.036
Jn drei verschiedenen Kantonen, p1b_721.037
Wo die verschiednen Ritter wohnen, p1b_721.038
Abwechselnd sich zu zeigen, p1b_721.039
Jn dem Kantone Steigerwald, p1b_721.040
Jn dem von Rhön und Werre, p1b_721.041
(Und Baunach heißt der dritte) p1b_721.042
Bald ist er hüben, drüben bald; p1b_721.043
Weil unser gnäd'ger Herre p1b_721.044
Hier wohnet recht in aller dreien Mitte.

(Rückert.)

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0755" n="721"/><lb n="p1b_721.001"/>
von Aue, Der tugendhafte Schreiber); die beiden letzteren Formen <lb n="p1b_721.002"/>
finden sich in gleicher Häufigkeit. Die älteren Formen dieser zwölfzeiligen <lb n="p1b_721.003"/>
Strophen sind so planvoll und so architektonisch verständnisvoll <lb n="p1b_721.004"/>
aufgebaut, wie wir etwas Ähnliches bei den Neueren nicht nachzuweisen <lb n="p1b_721.005"/>
vermögen. Zum Beweis geben wir übersetzt nur eines von <lb n="p1b_721.006"/>
den vielen Beispielen:</p>
            <lb n="p1b_721.007"/>
            <lg>
              <l>Jahrlang will die Linde</l>
              <lb n="p1b_721.008"/>
              <l> vom Winde</l>
              <lb n="p1b_721.009"/>
              <l> sich velwen, (== entfärben.)</l>
              <lb n="p1b_721.010"/>
              <l>Die sich vor dem Walde</l>
              <lb n="p1b_721.011"/>
              <l> zu balde</l>
              <lb n="p1b_721.012"/>
              <l> kann velwen;</l>
              <lb n="p1b_721.013"/>
              <l>Trauren auf der Heide</l>
              <lb n="p1b_721.014"/>
              <l> mit Leide</l>
              <lb n="p1b_721.015"/>
              <l> man übet:</l>
              <lb n="p1b_721.016"/>
              <l> so hat mir die Minne</l>
              <lb n="p1b_721.017"/>
              <l> die Sinne</l>
              <lb n="p1b_721.018"/>
              <l> betrübet.</l>
            </lg>
            <p> <hi rendition="#right">(Konrad von Würzburg.)</hi> </p>
            <p><lb n="p1b_721.019"/>
Welch reiche Kombinationszahl bei der zwölfzeiligen Strophe möglich ist, <lb n="p1b_721.020"/>
ergiebt schon der Hinblick auf die Kombinationsmöglichkeit der achtzeiligen. <lb n="p1b_721.021"/>
Die neu hinzukommenden 15 Kombinationen der letzten 4 Zeilen können einzeln <lb n="p1b_721.022"/>
an die 225 Kombinationen der achtzeiligen Strophe angefügt werden, wodurch <lb n="p1b_721.023"/>
sich 15 × 225 == 3375 Kombinationen ergeben, die noch durch eine Durchsetzung <lb n="p1b_721.024"/>
der einzelnen Zeilen mit reimlosen Zeilen erheblich vermehrt werden.</p>
            <lb n="p1b_721.025"/>
            <p> <hi rendition="#c">Formen der zwölfzeiligen Strophe.</hi> </p>
            <p><lb n="p1b_721.026"/>
1. <hi rendition="#aq">a a b c c b d e e b d d</hi>.</p>
            <p><lb n="p1b_721.027"/><hi rendition="#g">Beispiel:</hi> Rost von Sarnen (Hagens Minnes. <hi rendition="#aq">II</hi>. 133. 8).</p>
            <p><lb n="p1b_721.028"/>
2. <hi rendition="#aq">a a b c c b d e f d e f</hi>.</p>
            <p><lb n="p1b_721.029"/>
Diese von Walther von der Vogelweide (Hagens Minnes. <hi rendition="#aq">I</hi>. 271. 79) <lb n="p1b_721.030"/>
gebrauchte Strophe hat Rückert mit charakteristisch verlängerter Schlußzeile angewandt.</p>
            <lb n="p1b_721.031"/>
            <p>
              <lb n="p1b_721.032"/> <hi rendition="#g">Beispiel:</hi> </p>
            <lb n="p1b_721.033"/>
            <lg>
              <l>Der Ritterbote Steigemeier</l>
              <lb n="p1b_721.034"/>
              <l>Hat auch am Feiertag nicht Feier,</l>
              <lb n="p1b_721.035"/>
              <l>Stets hat er umzusteigen,</l>
              <lb n="p1b_721.036"/>
              <l>Jn drei verschiedenen Kantonen,</l>
              <lb n="p1b_721.037"/>
              <l>Wo die verschiednen Ritter wohnen,</l>
              <lb n="p1b_721.038"/>
              <l>Abwechselnd sich zu zeigen,</l>
              <lb n="p1b_721.039"/>
              <l>Jn dem Kantone Steigerwald,</l>
              <lb n="p1b_721.040"/>
              <l>Jn dem von Rhön und Werre,</l>
              <lb n="p1b_721.041"/>
              <l>(Und Baunach heißt der dritte)</l>
              <lb n="p1b_721.042"/>
              <l>Bald ist er hüben, drüben bald;</l>
              <lb n="p1b_721.043"/>
              <l>Weil unser gnäd'ger Herre</l>
              <lb n="p1b_721.044"/>
              <l>Hier wohnet recht in aller dreien Mitte.</l>
            </lg>
            <p> <hi rendition="#right">(Rückert.)</hi> </p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[721/0755] p1b_721.001 von Aue, Der tugendhafte Schreiber); die beiden letzteren Formen p1b_721.002 finden sich in gleicher Häufigkeit. Die älteren Formen dieser zwölfzeiligen p1b_721.003 Strophen sind so planvoll und so architektonisch verständnisvoll p1b_721.004 aufgebaut, wie wir etwas Ähnliches bei den Neueren nicht nachzuweisen p1b_721.005 vermögen. Zum Beweis geben wir übersetzt nur eines von p1b_721.006 den vielen Beispielen: p1b_721.007 Jahrlang will die Linde p1b_721.008 vom Winde p1b_721.009 sich velwen, (== entfärben.) p1b_721.010 Die sich vor dem Walde p1b_721.011 zu balde p1b_721.012 kann velwen; p1b_721.013 Trauren auf der Heide p1b_721.014 mit Leide p1b_721.015 man übet: p1b_721.016 so hat mir die Minne p1b_721.017 die Sinne p1b_721.018 betrübet. (Konrad von Würzburg.) p1b_721.019 Welch reiche Kombinationszahl bei der zwölfzeiligen Strophe möglich ist, p1b_721.020 ergiebt schon der Hinblick auf die Kombinationsmöglichkeit der achtzeiligen. p1b_721.021 Die neu hinzukommenden 15 Kombinationen der letzten 4 Zeilen können einzeln p1b_721.022 an die 225 Kombinationen der achtzeiligen Strophe angefügt werden, wodurch p1b_721.023 sich 15 × 225 == 3375 Kombinationen ergeben, die noch durch eine Durchsetzung p1b_721.024 der einzelnen Zeilen mit reimlosen Zeilen erheblich vermehrt werden. p1b_721.025 Formen der zwölfzeiligen Strophe. p1b_721.026 1. a a b c c b d e e b d d. p1b_721.027 Beispiel: Rost von Sarnen (Hagens Minnes. II. 133. 8). p1b_721.028 2. a a b c c b d e f d e f. p1b_721.029 Diese von Walther von der Vogelweide (Hagens Minnes. I. 271. 79) p1b_721.030 gebrauchte Strophe hat Rückert mit charakteristisch verlängerter Schlußzeile angewandt. p1b_721.031 p1b_721.032 Beispiel: p1b_721.033 Der Ritterbote Steigemeier p1b_721.034 Hat auch am Feiertag nicht Feier, p1b_721.035 Stets hat er umzusteigen, p1b_721.036 Jn drei verschiedenen Kantonen, p1b_721.037 Wo die verschiednen Ritter wohnen, p1b_721.038 Abwechselnd sich zu zeigen, p1b_721.039 Jn dem Kantone Steigerwald, p1b_721.040 Jn dem von Rhön und Werre, p1b_721.041 (Und Baunach heißt der dritte) p1b_721.042 Bald ist er hüben, drüben bald; p1b_721.043 Weil unser gnäd'ger Herre p1b_721.044 Hier wohnet recht in aller dreien Mitte. (Rückert.)

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik01_1882
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik01_1882/755
Zitationshilfe: Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Erster Band. Stuttgart, 1882, S. 721. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik01_1882/755>, abgerufen am 22.11.2024.