Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Erster Band. Stuttgart, 1882.p1b_554.001 p1b_554.022 Und stumm ist alles, was die Wildnis hegt, p1b_554.027 Man würde fern den Zug des Atems hören! p1b_554.028 Nichts lebt umher, kein Laub ist aufgeregt, p1b_554.029 Nichts, das die tiefe Stille könnte stören. p1b_554.030 Nur auf dem Fels, dort unter jenen Föhren, p1b_554.031 Scheint etwas Graues her, das sich bewegt; p1b_554.032 Es rauscht, - der Wald erschallt von Fußestritten, p1b_554.033 Und näher her kommt die Gestalt geschritten. p1b_554.034 p1b_554.035 p1b_554.038 Maria trat, die lieblichste der Frauen, p1b_554.040
Jn ihres Vaters stolze Königshallen, p1b_554.041 So wonnig sie und doch voll Schmerz zu schauen! p1b_554.042 Die blonden Locken sieht man niederwallen, p1b_554.043 Von Thränen feucht, die aus den Augen tauen p1b_554.044 Und mit dem Haar zum weißen Busen fallen. p1b_554.045 Zum Vater, der sie fröhlich an der Pforte p1b_554.046 Begrüßt, spricht sie mit Schluchzen diese Worte. p1b_554.001 p1b_554.022 Und stumm ist alles, was die Wildnis hegt, p1b_554.027 Man würde fern den Zug des Atems hören! p1b_554.028 Nichts lebt umher, kein Laub ist aufgeregt, p1b_554.029 Nichts, das die tiefe Stille könnte stören. p1b_554.030 Nur auf dem Fels, dort unter jenen Föhren, p1b_554.031 Scheint etwas Graues her, das sich bewegt; p1b_554.032 Es rauscht, ─ der Wald erschallt von Fußestritten, p1b_554.033 Und näher her kommt die Gestalt geschritten. p1b_554.034 p1b_554.035 p1b_554.038 Maria trat, die lieblichste der Frauen, p1b_554.040
Jn ihres Vaters stolze Königshallen, p1b_554.041 So wonnig sie und doch voll Schmerz zu schauen! p1b_554.042 Die blonden Locken sieht man niederwallen, p1b_554.043 Von Thränen feucht, die aus den Augen tauen p1b_554.044 Und mit dem Haar zum weißen Busen fallen. p1b_554.045 Zum Vater, der sie fröhlich an der Pforte p1b_554.046 Begrüßt, spricht sie mit Schluchzen diese Worte. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <pb facs="#f0588" n="554"/> <p><lb n="p1b_554.001"/><hi rendition="#g">Viehoff</hi> tadelt die Schillersche und Wielandsche Umformung. Er sagt: <lb n="p1b_554.002"/> „Die Schönheit der italienischen Stanze beruht auf dem schönen Gleichgewicht, <lb n="p1b_554.003"/> dem rhythmischen Ebenmaß ihrer Hauptteile wie ihrer Unterglieder und auf dem <lb n="p1b_554.004"/> harmoniereichen Reimgesetz, der innigen Verschränkung der sechs ersten Reimzeilen, <lb n="p1b_554.005"/> deren Gleichklänge durch ihr dreimaliges Fliehen und Wiederkehren, ihr Hin= <lb n="p1b_554.006"/> und Herwogen einen höchst anmutigen Wellenschlag bilden, an den sich dann <lb n="p1b_554.007"/> der harmonische Zweiklang beruhigend anschließt. Diese eigentümlichen Reize <lb n="p1b_554.008"/> sind durch die <hi rendition="#g">Wieland-Schillersche</hi> Umformung gänzlich zerstört. Will <lb n="p1b_554.009"/> man die Stanze umbilden ─ und behufs ihrer Verwendung zu umfassenden <lb n="p1b_554.010"/> Dichtungen ist dies allerdings nötig, ─ so hat man darauf zu achten, daß, <lb n="p1b_554.011"/> wenn in der Verteilung rhythmischer Maße eine Änderung vorgenommen wird, <lb n="p1b_554.012"/> ein neues Gleichgewicht an die Stelle des alten tritt, und ferner, daß nur <lb n="p1b_554.013"/> Verse mit einander verbunden werden, die rücksichtlich der Zahl ihrer Füße in <lb n="p1b_554.014"/> ganz einfachem Verhältnisse stehen, also nicht Quinare und Dimeter, die sich <lb n="p1b_554.015"/> wie 5 zu 4 verhalten, aber wohl etwa Alexandriner und Dimeter, da jene <lb n="p1b_554.016"/> als Oktonare (die Pausen eingerechnet) zu diesen im Verhältnis von 2 zu 1 <lb n="p1b_554.017"/> stehen. Die Reimfolge lasse man unangetastet; dagegen kann der jambische <lb n="p1b_554.018"/> Rhythmus zur Milderung der Monorhythmie hier und da durch einen Anapäst <lb n="p1b_554.019"/> unterbrochen werden, aber <hi rendition="#g">nur hie und da,</hi> damit das Gefühl des <hi rendition="#g">jambischen <lb n="p1b_554.020"/> Rhythmus</hi> nicht verloren geht, und nur wo die lebendigere Bewegung <lb n="p1b_554.021"/> dem darzustellenden Gegenstande entspricht.“</p> <p><lb n="p1b_554.022"/> Den Wielandschen und Schillerschen Oktaven sind in vielen Stücken einzelne <lb n="p1b_554.023"/> Oktaven in Schulzes Cäcilie ähnlich. (Jn ihnen wechseln häufig vier= <lb n="p1b_554.024"/> und fünftaktige Jamben mit sechstaktigen.) Jn Bezug auf veränderte Reimstellung <lb n="p1b_554.025"/> sind ihnen die <hi rendition="#g">Zedlitzschen</hi> Oktaven verwandt, z. B.</p> <lb n="p1b_554.026"/> <lg> <l>Und stumm ist alles, was die Wildnis hegt,</l> <lb n="p1b_554.027"/> <l>Man würde fern den Zug des Atems hören!</l> <lb n="p1b_554.028"/> <l>Nichts lebt umher, kein Laub ist aufgeregt,</l> <lb n="p1b_554.029"/> <l>Nichts, das die tiefe Stille könnte <hi rendition="#g">stören.</hi></l> <lb n="p1b_554.030"/> <l>Nur auf dem Fels, dort unter jenen Föhren,</l> <lb n="p1b_554.031"/> <l>Scheint etwas Graues her, das sich bewegt;</l> <lb n="p1b_554.032"/> <l>Es rauscht, ─ der Wald erschallt von Fußestritten,</l> <lb n="p1b_554.033"/> <l>Und näher her kommt die Gestalt geschritten.</l> </lg> </div> <div n="5"> <p><lb n="p1b_554.034"/><hi rendition="#aq">c</hi>. Av<hi rendition="#aq">é</hi>-Lallemantsche Oktaven.</p> <p><lb n="p1b_554.035"/> R. Av<hi rendition="#aq">é</hi>=Lallemant hat in seiner Übersetzung des Camo<hi rendition="#aq">ë</hi>ns (Leipzig <lb n="p1b_554.036"/> 1879) die Oktaven wie Schlegel dem Original entsprechend mit weiblichen <lb n="p1b_554.037"/> Reimen gebildet.</p> <p> <lb n="p1b_554.038"/> <hi rendition="#g">Beispiel:</hi> </p> <lb n="p1b_554.039"/> <lg> <l>Maria trat, die lieblichste der Frauen,</l> <lb n="p1b_554.040"/> <l>Jn ihres Vaters stolze Königshallen,</l> <lb n="p1b_554.041"/> <l>So wonnig sie und doch voll Schmerz zu schauen!</l> <lb n="p1b_554.042"/> <l>Die blonden Locken sieht man niederwallen,</l> <lb n="p1b_554.043"/> <l>Von Thränen feucht, die aus den Augen tauen</l> <lb n="p1b_554.044"/> <l>Und mit dem Haar zum weißen Busen fallen.</l> <lb n="p1b_554.045"/> <l>Zum Vater, der sie fröhlich an der Pforte</l> <lb n="p1b_554.046"/> <l>Begrüßt, spricht sie mit Schluchzen diese Worte.</l> </lg> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [554/0588]
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Viehoff tadelt die Schillersche und Wielandsche Umformung. Er sagt: p1b_554.002
„Die Schönheit der italienischen Stanze beruht auf dem schönen Gleichgewicht, p1b_554.003
dem rhythmischen Ebenmaß ihrer Hauptteile wie ihrer Unterglieder und auf dem p1b_554.004
harmoniereichen Reimgesetz, der innigen Verschränkung der sechs ersten Reimzeilen, p1b_554.005
deren Gleichklänge durch ihr dreimaliges Fliehen und Wiederkehren, ihr Hin= p1b_554.006
und Herwogen einen höchst anmutigen Wellenschlag bilden, an den sich dann p1b_554.007
der harmonische Zweiklang beruhigend anschließt. Diese eigentümlichen Reize p1b_554.008
sind durch die Wieland-Schillersche Umformung gänzlich zerstört. Will p1b_554.009
man die Stanze umbilden ─ und behufs ihrer Verwendung zu umfassenden p1b_554.010
Dichtungen ist dies allerdings nötig, ─ so hat man darauf zu achten, daß, p1b_554.011
wenn in der Verteilung rhythmischer Maße eine Änderung vorgenommen wird, p1b_554.012
ein neues Gleichgewicht an die Stelle des alten tritt, und ferner, daß nur p1b_554.013
Verse mit einander verbunden werden, die rücksichtlich der Zahl ihrer Füße in p1b_554.014
ganz einfachem Verhältnisse stehen, also nicht Quinare und Dimeter, die sich p1b_554.015
wie 5 zu 4 verhalten, aber wohl etwa Alexandriner und Dimeter, da jene p1b_554.016
als Oktonare (die Pausen eingerechnet) zu diesen im Verhältnis von 2 zu 1 p1b_554.017
stehen. Die Reimfolge lasse man unangetastet; dagegen kann der jambische p1b_554.018
Rhythmus zur Milderung der Monorhythmie hier und da durch einen Anapäst p1b_554.019
unterbrochen werden, aber nur hie und da, damit das Gefühl des jambischen p1b_554.020
Rhythmus nicht verloren geht, und nur wo die lebendigere Bewegung p1b_554.021
dem darzustellenden Gegenstande entspricht.“
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Den Wielandschen und Schillerschen Oktaven sind in vielen Stücken einzelne p1b_554.023
Oktaven in Schulzes Cäcilie ähnlich. (Jn ihnen wechseln häufig vier= p1b_554.024
und fünftaktige Jamben mit sechstaktigen.) Jn Bezug auf veränderte Reimstellung p1b_554.025
sind ihnen die Zedlitzschen Oktaven verwandt, z. B.
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Und stumm ist alles, was die Wildnis hegt, p1b_554.027
Man würde fern den Zug des Atems hören! p1b_554.028
Nichts lebt umher, kein Laub ist aufgeregt, p1b_554.029
Nichts, das die tiefe Stille könnte stören. p1b_554.030
Nur auf dem Fels, dort unter jenen Föhren, p1b_554.031
Scheint etwas Graues her, das sich bewegt; p1b_554.032
Es rauscht, ─ der Wald erschallt von Fußestritten, p1b_554.033
Und näher her kommt die Gestalt geschritten.
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c. Avé-Lallemantsche Oktaven.
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R. Avé=Lallemant hat in seiner Übersetzung des Camoëns (Leipzig p1b_554.036
1879) die Oktaven wie Schlegel dem Original entsprechend mit weiblichen p1b_554.037
Reimen gebildet.
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Beispiel:
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Maria trat, die lieblichste der Frauen, p1b_554.040
Jn ihres Vaters stolze Königshallen, p1b_554.041
So wonnig sie und doch voll Schmerz zu schauen! p1b_554.042
Die blonden Locken sieht man niederwallen, p1b_554.043
Von Thränen feucht, die aus den Augen tauen p1b_554.044
Und mit dem Haar zum weißen Busen fallen. p1b_554.045
Zum Vater, der sie fröhlich an der Pforte p1b_554.046
Begrüßt, spricht sie mit Schluchzen diese Worte.
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