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Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Erster Band. Stuttgart, 1882.

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Wer recht in Freuden wandern will, p1b_506.002
Der geh' der Sonn' entgegen, p1b_506.003
Da ist der Wald so kirchenstill, p1b_506.004
Kein Lüftchen mag sich regen; p1b_506.005
Noch sind nicht die Lerchen wach, p1b_506.006
Nur im hohen Gras der Bach p1b_506.007
Singt leise den Morgensegen &c.
p1b_506.008

(Geibel, Morgenwanderung.)

p1b_506.009
Jnteressant ist, wie A. W. Schlegel in der "Warnung" durch den p1b_506.010
Rhythmuswechsel gefällige Strophen bildet. Er verdrängt den jambischen p1b_506.011
Rhythmus der vier ersten Zeilen durch den trochäisch=daktylischen der fünften p1b_506.012
und sechsten, um charakteristisch mit dem jambisch=anapästischen zu schließen:

p1b_506.013
Es tritt ein Wandersmann herfür p1b_506.014
An eines Dorfes Schenke, p1b_506.015
Er setzt sich vor des Hauses Thür p1b_506.016
Jm Schatten auf die Bänke. p1b_506.017
Legt sein Bünndel neben sich, p1b_506.018
Bittet den Wirt bescheidentlich, p1b_506.019
Mit einem Trunk ihn zu laben u. s. w.

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Hier ist auch der Lutherischen Strophenbildung im bekannten Kirchengesang p1b_506.021
"Ein feste Burg ist unser Gott" zu gedenken, wo Luther den p1b_506.022
dochmiusähnlichen Rhythmus (vgl. § 103, S. 302) neben Abwechselung in der p1b_506.023
Zeilenlänge für ein strophisches Charakteristikum wirksam verwertet:

p1b_506.024
Ein feste Burg ist unser Gott, p1b_506.025
Ein gute Wehr und Waffen. p1b_506.026
Er hilft uns frei aus aller Not, p1b_506.027
Die uns jetzt hat betroffen. p1b_506.028
Der alt bose Feind p1b_506.029
Mit Ernst er's jetzt meint, p1b_506.030
Groß Macht und viel List p1b_506.031
Sein grausam Rüstung ist, p1b_506.032
Auf Erd' ist nicht sein's Gleichen.

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Charakteristisch wirkt in nachfolgender Strophe (mit ihrem auffälligen p1b_506.034
unreinen Reim "blatt") die in rhythmischer und melodischer Beziehung wohlthuende p1b_506.035
Einschiebung einer daktylisch=trochäischen Verszeile:

p1b_506.036
Des Kriegers Heldenthat, p1b_506.037
Des Bürgers Segensaat p1b_506.038
Finden ihr Lorbeerblatt p1b_506.039
An deinem Thron.
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Wer recht in Freuden wandern will, p1b_506.002
Der geh' der Sonn' entgegen, p1b_506.003
Da ist der Wald so kirchenstill, p1b_506.004
Kein Lüftchen mag sich regen; p1b_506.005
Noch sind nicht die Lerchen wach, p1b_506.006
Nur im hohen Gras der Bach p1b_506.007
Singt leise den Morgensegen &c.
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(Geibel, Morgenwanderung.)

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Jnteressant ist, wie A. W. Schlegel in der „Warnung“ durch den p1b_506.010
Rhythmuswechsel gefällige Strophen bildet. Er verdrängt den jambischen p1b_506.011
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Lēgt sĕin Bǖndĕl nēbĕn sīch, p1b_506.018
Bīttĕt dĕn Wīrt bĕscheīdĕntlīch, p1b_506.019
Mĭt ēinĕm Trūnk ĭhn zŭ lābĕn u. s. w.

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Hier ist auch der Lutherischen Strophenbildung im bekannten Kirchengesang p1b_506.021
Ein feste Burg ist unser Gott“ zu gedenken, wo Luther den p1b_506.022
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Ein feste Burg ist unser Gott, p1b_506.025
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Sein grausam Rüstung ist, p1b_506.032
Auf Erd' ist nicht sein's Gleichen.

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Charakteristisch wirkt in nachfolgender Strophe (mit ihrem auffälligen p1b_506.034
unreinen Reim „blatt“) die in rhythmischer und melodischer Beziehung wohlthuende p1b_506.035
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Des Kriegers Heldenthat, p1b_506.037
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Fīndĕn ĭhr Lōrbĕerblātt p1b_506.039
Ăn deīnĕm Thrōn.
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[506/0540] p1b_506.001 Wer recht in Freuden wandern will, p1b_506.002 Der geh' der Sonn' entgegen, p1b_506.003 Da ist der Wald so kirchenstill, p1b_506.004 Kein Lüftchen mag sich regen; p1b_506.005 Noch sind nicht die Lerchen wach, p1b_506.006 Nur im hohen Gras der Bach p1b_506.007 Singt leise den Morgensegen &c. p1b_506.008 (Geibel, Morgenwanderung.) p1b_506.009 Jnteressant ist, wie A. W. Schlegel in der „Warnung“ durch den p1b_506.010 Rhythmuswechsel gefällige Strophen bildet. Er verdrängt den jambischen p1b_506.011 Rhythmus der vier ersten Zeilen durch den trochäisch=daktylischen der fünften p1b_506.012 und sechsten, um charakteristisch mit dem jambisch=anapästischen zu schließen: p1b_506.013 Es tritt ein Wandersmann herfür p1b_506.014 An eines Dorfes Schenke, p1b_506.015 Er setzt sich vor des Hauses Thür p1b_506.016 J̆m Schātten auf die Bänke. p1b_506.017 Lēgt sĕin Bǖndĕl nēbĕn sīch, p1b_506.018 Bīttĕt dĕn Wīrt bĕscheīdĕntlīch, p1b_506.019 Mĭt ēinĕm Trūnk ĭhn zŭ lābĕn u. s. w. p1b_506.020 Hier ist auch der Lutherischen Strophenbildung im bekannten Kirchengesang p1b_506.021 „Ein feste Burg ist unser Gott“ zu gedenken, wo Luther den p1b_506.022 dochmiusähnlichen Rhythmus (vgl. § 103, S. 302) neben Abwechselung in der p1b_506.023 Zeilenlänge für ein strophisches Charakteristikum wirksam verwertet: p1b_506.024 Ein feste Burg ist unser Gott, p1b_506.025 Ein gute Wehr und Waffen. p1b_506.026 Er hilft uns frei aus aller Not, p1b_506.027 Die uns jetzt hat betroffen. p1b_506.028 Dĕr ālt bȫsĕ Feīnd p1b_506.029 Mĭt Ērnst ēr's jetzt meīnt, p1b_506.030 Grŏß Mācht ūnd viel Līst p1b_506.031 Sein grausam Rüstung ist, p1b_506.032 Auf Erd' ist nicht sein's Gleichen. p1b_506.033 Charakteristisch wirkt in nachfolgender Strophe (mit ihrem auffälligen p1b_506.034 unreinen Reim „blatt“) die in rhythmischer und melodischer Beziehung wohlthuende p1b_506.035 Einschiebung einer daktylisch=trochäischen Verszeile: p1b_506.036 Des Kriegers Heldenthat, p1b_506.037 Des Bürgers Segensaat p1b_506.038 Fīndĕn ĭhr Lōrbĕerblātt p1b_506.039 Ăn deīnĕm Thrōn.

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Zitationshilfe: Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Erster Band. Stuttgart, 1882, S. 506. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik01_1882/540>, abgerufen am 22.11.2024.