p1b_011.001 Da die Poesie die plastische Anschaulichkeit der sämmtlichen bildenden p1b_011.002 Künste mit der Jnnerlichkeit der Musik vereint, muß sie als Perle unter den p1b_011.003 schönen Künsten gelten oder, wie Vischer sagt, als Totalität der Künste,p1b_011.004 als die Kunst der Künste. Die Verbindung des leichtesten Darstellungsmittels p1b_011.005 (Sprache) mit dem umfassendsten Darstellungsinhalt (der gesammten p1b_011.006 Vorstellungswelt) erhebt sie zur höchsten aller Künste. Lemcke sagt treffend p1b_011.007 von ihr (an den Dialog "Phädrus" von Platon erinnernd):
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Kennst du das Wesen der Poesie?p1b_011.09 Es ist die menschliche Göttlichkeit,p1b_011.010 Mit den Geistesschwingen der Phantasie,p1b_011.011 Mit der Gottheit tugendreinem Kleid.
p1b_011.012 Es hämmert und pocht das Herz den Takt,p1b_011.013 Es fliegen die Pulse, es zuckt die Brust,p1b_011.014 Wenn die Gewalt der Dichtung uns packtp1b_011.015 Mit süßem Leid und bittrer Lust.
p1b_011.016 Vor des Einsamen losem Prophetenblickp1b_011.017 Entsteht der Gottheit Jdeal,p1b_011.018 Er fühlt ein überschwenglich Glück,p1b_011.019 Der Gottheit seligen Schöpferstrahl.
p1b_011.020 Die Nähe der Gottheit ist Poesie;p1b_011.021 Ein Schauer durchrieselt Mark und Bein,p1b_011.022 Und Verse sind himmlische Melodie,p1b_011.023 Die wiegen das thörichte Herz dir ein.
p1b_011.024 Die Sprache der Poesie gleicht dem sonnenbeglänzten blumigen Wiesenteppich; p1b_011.025 sie schmückt sich mit jeder Zier, um das vollendete Bild des Schönen p1b_011.026 zu sein. Daher sind die Ausschmückungsmittel: Tropen, Figuren, p1b_011.027 Reim &c. Gegenstände der Poetik.
p1b_011.028 Der Naturmensch stimmte mit dem ersten Gebrauch der Töne sein Lied an, zu p1b_011.029 welchem ihm die Natur den Text lieferte. Die erste Poesie war also rein lyrisch p1b_011.030 und individuell. Die epischen Formen entfalteten sich, als die Ereignisse des p1b_011.031 Lebens Stoff zum Besingen boten. Diese erste Poesie war Natur= oder Volkspoesie.p1b_011.032 Erst nach langer Übung gewann man die Fähigkeit, das ewig Schöne p1b_011.033 regelrecht darzustellen, die Jdee des Schönen kunstvoll zu verkörpern. Es entstand p1b_011.034 die Kunstpoesie. Sie ist die zielbewußte Poesie, die einen idealen p1b_011.035 Gedanken erfaßt und ihn darstellt. Ein solcher idealer Gedanke ist z. B. die wunderbare p1b_011.036 Macht des Gesanges, welche göttlichen Ursprungs ist und über Vernichtung p1b_011.037 und Unsterblichkeit gebietet. Uhland hat diese herrliche Jdee veranschaulicht p1b_011.038 in der einfachen, aber großartigen Komposition seiner Ballade "Des Sängers p1b_011.039 Fluch", welche durch ihre plastische Anschaulichkeit, sowie durch das Erschütternde p1b_011.040 des Stoffes und der mit anmutendstem Wohllaut vereinten Gewalt der Sprache p1b_011.041 jeden fesseln wird. - Ein solcher idealer Gedanke ist beispielshalber auch die p1b_011.042 Anschauung Rückerts, daß Deutschlands Macht in seiner Einheit liege. Er verkörpert p1b_011.043 diesen Gedanken z. B. in "der hohlen Weide", wie namentlich in den "drei
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Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Erster Band. Stuttgart, 1882, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik01_1882/45>, abgerufen am 23.11.2024.
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