Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Erster Band. Stuttgart, 1882.

Bild:
<< vorherige Seite
p1b_380.001
Drängen sich an mein Herz. p1b_380.002
Du kühlst den brennenden p1b_380.003
Durst meines Busens, p1b_380.004
Lieblicher Morgenwind! p1b_380.005
Ruft drein die Nachtigall p1b_380.006
Liebend nach mir aus dem Nebelthal. p1b_380.007
Jch komm', ich komme! p1b_380.008
Wohin? Ach, wohin?
p1b_380.009
Hinauf! Hinauf strebt's, p1b_380.010
Es schweben die Wolken p1b_380.011
Abwärts, die Wolken p1b_380.012
Neigen sich der sehnenden Liebe. p1b_380.013
Mir! Mir! p1b_380.014
Jn eurem Schoße p1b_380.015
Aufwärts! p1b_380.016
Umfangend umfangen! p1b_380.017
Aufwärts an deinen Busen, p1b_380.018
Allliebender Vater!

(Goethes Ganymed.)

p1b_380.019
Ans Bogenfenster lehnt p1b_380.020
Jm Morgensonnenschein p1b_380.021
Sich das zarte Jungfräulein. p1b_380.022
Es sehnt p1b_380.023
Jhr Herz sich in wonnigem Bangen, p1b_380.024
Den Liebsten zu sehn, p1b_380.025
Es glühen die Wangen, - p1b_380.026
Kaum kann sie verstehn, p1b_380.027
Was ihr so süß die Seele ergreift. p1b_380.028
Es streift p1b_380.029
Ein Zweig, der um die Säule sich flicht, p1b_380.030
Jhr Angesicht, p1b_380.031
Da wird sie überstrahlt p1b_380.032
Von purpurner Rosen Licht, p1b_380.033
Die dicht p1b_380.034
An den Zweigen blühen p1b_380.035
Und lieblich wie ihre Wangen erglühen u. s. w.
p1b_380.036

(G. Kastropp, Heinr. v. Ofterdingen.)

p1b_380.037
§ 121. Deutsche Hebungsverse.

p1b_380.038
Sie stimmen mit den freien Accentversen durch den Ausschluß p1b_380.039
jeglichen strophischen Zwangs sowie darin überein, daß sie den Thesen p1b_380.040
keinerlei Beachtung schenken. Dafür aber beachten sie eine bestimmte p1b_380.041
Anzahl von Arsen und nähern sich dadurch den symmetrischen Accentversen. p1b_380.042
(S. 370.) Es sind prächtige Verse, die dem Dichter einen über p1b_380.043
das Metrum hinausgehenden Spielraum in der Silbenentfaltung einräumen; p1b_380.044
sie ergötzen durch ihren Wohllaut und sind unserer Sprache p1b_380.045
mit ihrem ausgeprägten Accent durchaus entsprechend. Rückert hat p1b_380.046
sein Epos Nal und Damajanti in diesen Versen geschrieben (vgl. p1b_380.047
Probe bei § 139. 2).

p1b_380.001
Drängen sich an mein Herz. p1b_380.002
Du kühlst den brennenden p1b_380.003
Durst meines Busens, p1b_380.004
Lieblicher Morgenwind! p1b_380.005
Ruft drein die Nachtigall p1b_380.006
Liebend nach mir aus dem Nebelthal. p1b_380.007
Jch komm', ich komme! p1b_380.008
Wohin? Ach, wohin?
p1b_380.009
Hinauf! Hinauf strebt's, p1b_380.010
Es schweben die Wolken p1b_380.011
Abwärts, die Wolken p1b_380.012
Neigen sich der sehnenden Liebe. p1b_380.013
Mir! Mir! p1b_380.014
Jn eurem Schoße p1b_380.015
Aufwärts! p1b_380.016
Umfangend umfangen! p1b_380.017
Aufwärts an deinen Busen, p1b_380.018
Allliebender Vater!

(Goethes Ganymed.)

p1b_380.019
Ans Bogenfenster lehnt p1b_380.020
Jm Morgensonnenschein p1b_380.021
Sich das zarte Jungfräulein. p1b_380.022
Es sehnt p1b_380.023
Jhr Herz sich in wonnigem Bangen, p1b_380.024
Den Liebsten zu sehn, p1b_380.025
Es glühen die Wangen, ─ p1b_380.026
Kaum kann sie verstehn, p1b_380.027
Was ihr so süß die Seele ergreift. p1b_380.028
Es streift p1b_380.029
Ein Zweig, der um die Säule sich flicht, p1b_380.030
Jhr Angesicht, p1b_380.031
Da wird sie überstrahlt p1b_380.032
Von purpurner Rosen Licht, p1b_380.033
Die dicht p1b_380.034
An den Zweigen blühen p1b_380.035
Und lieblich wie ihre Wangen erglühen u. s. w.
p1b_380.036

(G. Kastropp, Heinr. v. Ofterdingen.)

p1b_380.037
§ 121. Deutsche Hebungsverse.

p1b_380.038
Sie stimmen mit den freien Accentversen durch den Ausschluß p1b_380.039
jeglichen strophischen Zwangs sowie darin überein, daß sie den Thesen p1b_380.040
keinerlei Beachtung schenken. Dafür aber beachten sie eine bestimmte p1b_380.041
Anzahl von Arsen und nähern sich dadurch den symmetrischen Accentversen. p1b_380.042
(S. 370.) Es sind prächtige Verse, die dem Dichter einen über p1b_380.043
das Metrum hinausgehenden Spielraum in der Silbenentfaltung einräumen; p1b_380.044
sie ergötzen durch ihren Wohllaut und sind unserer Sprache p1b_380.045
mit ihrem ausgeprägten Accent durchaus entsprechend. Rückert hat p1b_380.046
sein Epos Nal und Damajanti in diesen Versen geschrieben (vgl. p1b_380.047
Probe bei § 139. 2).

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0414" n="380"/>
            <lb n="p1b_380.001"/>
            <lg>
              <l>Drängen sich an mein Herz.</l>
              <lb n="p1b_380.002"/>
              <l>Du kühlst den brennenden</l>
              <lb n="p1b_380.003"/>
              <l>Durst meines Busens,</l>
              <lb n="p1b_380.004"/>
              <l>Lieblicher Morgenwind!</l>
              <lb n="p1b_380.005"/>
              <l>Ruft drein die Nachtigall</l>
              <lb n="p1b_380.006"/>
              <l>Liebend nach mir aus dem Nebelthal.</l>
              <lb n="p1b_380.007"/>
              <l>Jch komm', ich komme!</l>
              <lb n="p1b_380.008"/>
              <l>Wohin? Ach, wohin? </l>
            </lg>
            <lg>
              <lb n="p1b_380.009"/>
              <l>Hinauf! Hinauf strebt's,</l>
              <lb n="p1b_380.010"/>
              <l>Es schweben die Wolken</l>
              <lb n="p1b_380.011"/>
              <l>Abwärts, die Wolken</l>
              <lb n="p1b_380.012"/>
              <l>Neigen sich der sehnenden Liebe.</l>
              <lb n="p1b_380.013"/>
              <l>Mir! Mir!</l>
              <lb n="p1b_380.014"/>
              <l>Jn eurem Schoße</l>
              <lb n="p1b_380.015"/>
              <l>Aufwärts!</l>
              <lb n="p1b_380.016"/>
              <l>Umfangend umfangen!</l>
              <lb n="p1b_380.017"/>
              <l>Aufwärts an deinen Busen,</l>
              <lb n="p1b_380.018"/>
              <l>Allliebender Vater!</l>
            </lg>
            <p> <hi rendition="#right">(Goethes Ganymed.)</hi> </p>
            <lg>
              <lb n="p1b_380.019"/>
              <l>Ans Bogenfenster lehnt</l>
              <lb n="p1b_380.020"/>
              <l>Jm Morgensonnenschein</l>
              <lb n="p1b_380.021"/>
              <l>Sich das zarte Jungfräulein.</l>
              <lb n="p1b_380.022"/>
              <l>Es sehnt</l>
              <lb n="p1b_380.023"/>
              <l>Jhr Herz sich in wonnigem Bangen,</l>
              <lb n="p1b_380.024"/>
              <l>Den Liebsten zu sehn,</l>
              <lb n="p1b_380.025"/>
              <l>Es glühen die Wangen, &#x2500;</l>
              <lb n="p1b_380.026"/>
              <l>Kaum kann sie verstehn,</l>
              <lb n="p1b_380.027"/>
              <l>Was ihr so süß die Seele ergreift.</l>
              <lb n="p1b_380.028"/>
              <l>Es streift</l>
              <lb n="p1b_380.029"/>
              <l>Ein Zweig, der um die Säule sich flicht,</l>
              <lb n="p1b_380.030"/>
              <l>Jhr Angesicht,</l>
              <lb n="p1b_380.031"/>
              <l>Da wird sie überstrahlt</l>
              <lb n="p1b_380.032"/>
              <l>Von purpurner Rosen Licht,</l>
              <lb n="p1b_380.033"/>
              <l>Die dicht</l>
              <lb n="p1b_380.034"/>
              <l>An den Zweigen blühen</l>
              <lb n="p1b_380.035"/>
              <l>Und lieblich wie ihre Wangen erglühen u. s. w.</l>
            </lg>
            <lb n="p1b_380.036"/>
            <p> <hi rendition="#right">(G. Kastropp, Heinr. v. Ofterdingen.)</hi> </p>
          </div>
          <div n="3">
            <lb n="p1b_380.037"/>
            <head> <hi rendition="#c">§ 121. Deutsche Hebungsverse.</hi> </head>
            <p><lb n="p1b_380.038"/>
Sie stimmen mit den freien Accentversen durch den Ausschluß <lb n="p1b_380.039"/>
jeglichen strophischen Zwangs sowie darin überein, daß sie den Thesen <lb n="p1b_380.040"/>
keinerlei Beachtung schenken. Dafür aber beachten sie eine bestimmte <lb n="p1b_380.041"/>
Anzahl von Arsen und nähern sich dadurch den symmetrischen Accentversen. <lb n="p1b_380.042"/>
(S. 370.) Es sind prächtige Verse, die dem Dichter einen über <lb n="p1b_380.043"/>
das Metrum hinausgehenden Spielraum in der Silbenentfaltung einräumen; <lb n="p1b_380.044"/>
sie ergötzen durch ihren Wohllaut und sind unserer Sprache <lb n="p1b_380.045"/>
mit ihrem ausgeprägten Accent durchaus entsprechend. Rückert hat <lb n="p1b_380.046"/>
sein Epos Nal und Damajanti in diesen Versen geschrieben (vgl. <lb n="p1b_380.047"/>
Probe bei § 139. 2).</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[380/0414] p1b_380.001 Drängen sich an mein Herz. p1b_380.002 Du kühlst den brennenden p1b_380.003 Durst meines Busens, p1b_380.004 Lieblicher Morgenwind! p1b_380.005 Ruft drein die Nachtigall p1b_380.006 Liebend nach mir aus dem Nebelthal. p1b_380.007 Jch komm', ich komme! p1b_380.008 Wohin? Ach, wohin? p1b_380.009 Hinauf! Hinauf strebt's, p1b_380.010 Es schweben die Wolken p1b_380.011 Abwärts, die Wolken p1b_380.012 Neigen sich der sehnenden Liebe. p1b_380.013 Mir! Mir! p1b_380.014 Jn eurem Schoße p1b_380.015 Aufwärts! p1b_380.016 Umfangend umfangen! p1b_380.017 Aufwärts an deinen Busen, p1b_380.018 Allliebender Vater! (Goethes Ganymed.) p1b_380.019 Ans Bogenfenster lehnt p1b_380.020 Jm Morgensonnenschein p1b_380.021 Sich das zarte Jungfräulein. p1b_380.022 Es sehnt p1b_380.023 Jhr Herz sich in wonnigem Bangen, p1b_380.024 Den Liebsten zu sehn, p1b_380.025 Es glühen die Wangen, ─ p1b_380.026 Kaum kann sie verstehn, p1b_380.027 Was ihr so süß die Seele ergreift. p1b_380.028 Es streift p1b_380.029 Ein Zweig, der um die Säule sich flicht, p1b_380.030 Jhr Angesicht, p1b_380.031 Da wird sie überstrahlt p1b_380.032 Von purpurner Rosen Licht, p1b_380.033 Die dicht p1b_380.034 An den Zweigen blühen p1b_380.035 Und lieblich wie ihre Wangen erglühen u. s. w. p1b_380.036 (G. Kastropp, Heinr. v. Ofterdingen.) p1b_380.037 § 121. Deutsche Hebungsverse. p1b_380.038 Sie stimmen mit den freien Accentversen durch den Ausschluß p1b_380.039 jeglichen strophischen Zwangs sowie darin überein, daß sie den Thesen p1b_380.040 keinerlei Beachtung schenken. Dafür aber beachten sie eine bestimmte p1b_380.041 Anzahl von Arsen und nähern sich dadurch den symmetrischen Accentversen. p1b_380.042 (S. 370.) Es sind prächtige Verse, die dem Dichter einen über p1b_380.043 das Metrum hinausgehenden Spielraum in der Silbenentfaltung einräumen; p1b_380.044 sie ergötzen durch ihren Wohllaut und sind unserer Sprache p1b_380.045 mit ihrem ausgeprägten Accent durchaus entsprechend. Rückert hat p1b_380.046 sein Epos Nal und Damajanti in diesen Versen geschrieben (vgl. p1b_380.047 Probe bei § 139. 2).

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik01_1882
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik01_1882/414
Zitationshilfe: Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Erster Band. Stuttgart, 1882, S. 380. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik01_1882/414>, abgerufen am 25.11.2024.