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Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Erster Band. Stuttgart, 1882.

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Betrachtung der Poesie. Als Wissenschaft der Dichtkunst ist sie p1b_001.007
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Regeln zu abstrahieren und die Formen und Formeln der Poesie zu untersuchen, p1b_001.010
um sich ihrer Gesetze klar zu werden. Das auf diese Weise entstandene p1b_001.011
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der schönen Künste, wie aus der Betrachtung mustergültiger Dichtungen.

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Lehre des poetischen Stils und mit der äußeren Form und den Gattungen der p1b_001.015
Poesie &c. bekannt.

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den Sinn für das Schöne zu wecken und zu beleben; sie sucht ästhetische Bildung p1b_001.021
zu fördern. Jhre Kenntnis ist das unerläßliche Vorstudium zur Einführung p1b_001.022
in einen Dichter, wie in die gesammte Litteratur.

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schon besaßen, was ein Dichter braucht. Eine Poetik der Neuzeit soll aber p1b_001.025
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ein Unterricht im Dichten für Dichter sein, (was früher etwa die Skaldenschulen, p1b_001.027
oder die Dichterschulen zur Zeit der Minnesinger oder die Tabulaturen p1b_001.028
der Meistersänger &c. waren); sie soll auch nicht nur eine Einweisung in das p1b_001.029
Verständnis der fertig gestalteten poetischen Formen bieten: sondern sie soll

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Zitationshilfe: Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Erster Band. Stuttgart, 1882, S. E1. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik01_1882/35>, abgerufen am 27.04.2024.