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Beseler, Georg: Volksrecht und Juristenrecht. Leipzig, 1843.

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Zweites Kapitel.
"Got hevet den man na ime selve gebeldet, und hevet
ine mit siner martern geledeget, den enen also den an-
deren, ime is die arme also besvas als die rieke."

Aber wie kommt es doch, daß so viele Menschen unfrei
sind?

"An minen sinnen ne kan ik is nicht upgenemen, na
der warheit, dat jeman des anderen sole sin; ok ne hebbe
wie's nen orkünde."

Die Schriftgelehrten wissen freilich Gründe genug beizubrin-
gen, um die Unfreiheit aus der Bibel zu rechtfertigen; aber sie
überzeugen den frommen Spiegler nicht:
"Na rechter warheit so hevet egenscap begin von ge-
dvange unde von vengnisse unde von unrechter walt, die
man von aldere in unrechte wonheit getogen
hevet, unde nu vore recht hebben wel
."

Wir müssen also neben dem Volksrecht ein Gewohnheits-
recht annehmen, welches nicht allein gleichgültig neben jenem
hergehen, sondern demselben auch feindlich entgegentreten, ja
es verderben kann, wie auch die schlechte Gesetzgebung es ver-
mag. Indem v. Savigny diese Entartung der Rechtserzeu-
gung nicht anerkennt, sondern stets einen naturgemäßen Ent-
wicklungsproceß vor sich gehen läßt, sieht er sich genöthigt,
den heutigen deutschen Rechtszustand nach den von ihm fest-
gehaltenen Principien künstlich zu construiren, -- ein Versuch,
der schon deswegen mißlingen mußte, weil die Reception des
römischen Rechts in ihrem geschichtlichen Verlaufe sich nur als
ein Ausfluß des Gewohnheitsrechts im Gegensatz zum Volks-
recht erklären läßt. Denn selbst wenn man annehmen will,

Zweites Kapitel.
„Got hevet den man na ime ſelve gebeldet, und hevet
ine mit ſiner martern geledeget, den enen alſo den an-
deren, ime is die arme alſo beſvas als die rieke.“

Aber wie kommt es doch, daß ſo viele Menſchen unfrei
ſind?

„An minen ſinnen ne kan ik is nicht upgenemen, na
der warheit, dat jeman des anderen ſole ſin; ok ne hebbe
wie’s nen orkuͤnde.“

Die Schriftgelehrten wiſſen freilich Gruͤnde genug beizubrin-
gen, um die Unfreiheit aus der Bibel zu rechtfertigen; aber ſie
uͤberzeugen den frommen Spiegler nicht:
„Na rechter warheit ſo hevet egenſcap begin von ge-
dvange unde von vengniſſe unde von unrechter walt, die
man von aldere in unrechte wonheit getogen
hevet, unde nu vore recht hebben wel
.“

Wir muͤſſen alſo neben dem Volksrecht ein Gewohnheits-
recht annehmen, welches nicht allein gleichguͤltig neben jenem
hergehen, ſondern demſelben auch feindlich entgegentreten, ja
es verderben kann, wie auch die ſchlechte Geſetzgebung es ver-
mag. Indem v. Savigny dieſe Entartung der Rechtserzeu-
gung nicht anerkennt, ſondern ſtets einen naturgemaͤßen Ent-
wicklungsproceß vor ſich gehen laͤßt, ſieht er ſich genoͤthigt,
den heutigen deutſchen Rechtszuſtand nach den von ihm feſt-
gehaltenen Principien kuͤnſtlich zu conſtruiren, — ein Verſuch,
der ſchon deswegen mißlingen mußte, weil die Reception des
roͤmiſchen Rechts in ihrem geſchichtlichen Verlaufe ſich nur als
ein Ausfluß des Gewohnheitsrechts im Gegenſatz zum Volks-
recht erklaͤren laͤßt. Denn ſelbſt wenn man annehmen will,

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[78/0090] Zweites Kapitel. „Got hevet den man na ime ſelve gebeldet, und hevet ine mit ſiner martern geledeget, den enen alſo den an- deren, ime is die arme alſo beſvas als die rieke.“ Aber wie kommt es doch, daß ſo viele Menſchen unfrei ſind? „An minen ſinnen ne kan ik is nicht upgenemen, na der warheit, dat jeman des anderen ſole ſin; ok ne hebbe wie’s nen orkuͤnde.“ Die Schriftgelehrten wiſſen freilich Gruͤnde genug beizubrin- gen, um die Unfreiheit aus der Bibel zu rechtfertigen; aber ſie uͤberzeugen den frommen Spiegler nicht: „Na rechter warheit ſo hevet egenſcap begin von ge- dvange unde von vengniſſe unde von unrechter walt, die man von aldere in unrechte wonheit getogen hevet, unde nu vore recht hebben wel.“ Wir muͤſſen alſo neben dem Volksrecht ein Gewohnheits- recht annehmen, welches nicht allein gleichguͤltig neben jenem hergehen, ſondern demſelben auch feindlich entgegentreten, ja es verderben kann, wie auch die ſchlechte Geſetzgebung es ver- mag. Indem v. Savigny dieſe Entartung der Rechtserzeu- gung nicht anerkennt, ſondern ſtets einen naturgemaͤßen Ent- wicklungsproceß vor ſich gehen laͤßt, ſieht er ſich genoͤthigt, den heutigen deutſchen Rechtszuſtand nach den von ihm feſt- gehaltenen Principien kuͤnſtlich zu conſtruiren, — ein Verſuch, der ſchon deswegen mißlingen mußte, weil die Reception des roͤmiſchen Rechts in ihrem geſchichtlichen Verlaufe ſich nur als ein Ausfluß des Gewohnheitsrechts im Gegenſatz zum Volks- recht erklaͤren laͤßt. Denn ſelbſt wenn man annehmen will,

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Zitationshilfe: Beseler, Georg: Volksrecht und Juristenrecht. Leipzig, 1843, S. 78. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beseler_volksrecht_1843/90>, abgerufen am 24.11.2024.