sich auch noch in späterer Zeit selbständig entwickeln, und die Geschichte zeigt, daß dieß bei lebenskräftigen, gesunden Völ- kern allerdings der Fall gewesen ist. Man darf nur, um dieß zu erkennen, seinen Blick nicht vorzugsweise auf die rö- mische Kaiserzeit richten, in der ja fast jede Spur einer schaf- fenden Volkskraft verschwunden war.
Diese allgemeine Betrachtung aber führt zu einer weite- ren Erwägung der Stellung, welche v. Savigny der Gesetz- gebung und dem Juristenstande einräumt, und welche noch et- was genauer zu prüfen ist.
1. Die Bedeutung der Gesetzgebung für die Rechtsbil- dung ist so eben im Gegensatz zu v. Savigny's Lehre be- schränkt worden; aber von einer andern Seite betrachtet, scheint sie von ihm nicht hoch genug angeschlagen zu seyn. Sie soll das Volksrecht nachhelfend ergänzen und es später in Verbin- dung mit dem Juristenstande fortführen. Allein jene beschränkte Aufgabe, welche ihr für die frühere Periode angewiesen ist, entspricht nicht ganz dem mächtigen Einfluß, den zu allen Zei- ten und bei allen Völkern die schaffende und ordnende Kraft, die bewußte That des Gesetzgebers ausgeübt hat. Das Pri- vatrecht freilich pflegt den Weg der stillen, naiven Entwicklung zu gehen, und bedarf nur unter besondern Verhältnissen einer umfassenden legislativen Feststellung; aber in dem Privatrecht ist nicht das ganze Recht, nicht einmal der wichtigste Theil desselben enthalten. Das öffentliche Recht in seinem weitesten Umfange pflegt sich nicht auf eine so friedliche, leichte Weise zu gestalten. Allerdings ist auch hier die im Volke ruhende Kraft und Begabung, gewissermaaßen seine Aussteuer für den ihm bestimmten Lebensweg, das eigentlich Maaßgebende bei jeder Gestaltung, und der Nomothet würde für die Dauer
Beseler, Volksrecht. 5
Feſtſtellung des Gegenſtandes.
ſich auch noch in ſpaͤterer Zeit ſelbſtaͤndig entwickeln, und die Geſchichte zeigt, daß dieß bei lebenskraͤftigen, geſunden Voͤl- kern allerdings der Fall geweſen iſt. Man darf nur, um dieß zu erkennen, ſeinen Blick nicht vorzugsweiſe auf die roͤ- miſche Kaiſerzeit richten, in der ja faſt jede Spur einer ſchaf- fenden Volkskraft verſchwunden war.
Dieſe allgemeine Betrachtung aber fuͤhrt zu einer weite- ren Erwaͤgung der Stellung, welche v. Savigny der Geſetz- gebung und dem Juriſtenſtande einraͤumt, und welche noch et- was genauer zu pruͤfen iſt.
1. Die Bedeutung der Geſetzgebung fuͤr die Rechtsbil- dung iſt ſo eben im Gegenſatz zu v. Savigny’s Lehre be- ſchraͤnkt worden; aber von einer andern Seite betrachtet, ſcheint ſie von ihm nicht hoch genug angeſchlagen zu ſeyn. Sie ſoll das Volksrecht nachhelfend ergaͤnzen und es ſpaͤter in Verbin- dung mit dem Juriſtenſtande fortfuͤhren. Allein jene beſchraͤnkte Aufgabe, welche ihr fuͤr die fruͤhere Periode angewieſen iſt, entſpricht nicht ganz dem maͤchtigen Einfluß, den zu allen Zei- ten und bei allen Voͤlkern die ſchaffende und ordnende Kraft, die bewußte That des Geſetzgebers ausgeuͤbt hat. Das Pri- vatrecht freilich pflegt den Weg der ſtillen, naiven Entwicklung zu gehen, und bedarf nur unter beſondern Verhaͤltniſſen einer umfaſſenden legislativen Feſtſtellung; aber in dem Privatrecht iſt nicht das ganze Recht, nicht einmal der wichtigſte Theil deſſelben enthalten. Das oͤffentliche Recht in ſeinem weiteſten Umfange pflegt ſich nicht auf eine ſo friedliche, leichte Weiſe zu geſtalten. Allerdings iſt auch hier die im Volke ruhende Kraft und Begabung, gewiſſermaaßen ſeine Ausſteuer fuͤr den ihm beſtimmten Lebensweg, das eigentlich Maaßgebende bei jeder Geſtaltung, und der Nomothet wuͤrde fuͤr die Dauer
Beſeler, Volksrecht. 5
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[65/0077]
Feſtſtellung des Gegenſtandes.
ſich auch noch in ſpaͤterer Zeit ſelbſtaͤndig entwickeln, und die
Geſchichte zeigt, daß dieß bei lebenskraͤftigen, geſunden Voͤl-
kern allerdings der Fall geweſen iſt. Man darf nur, um
dieß zu erkennen, ſeinen Blick nicht vorzugsweiſe auf die roͤ-
miſche Kaiſerzeit richten, in der ja faſt jede Spur einer ſchaf-
fenden Volkskraft verſchwunden war.
Dieſe allgemeine Betrachtung aber fuͤhrt zu einer weite-
ren Erwaͤgung der Stellung, welche v. Savigny der Geſetz-
gebung und dem Juriſtenſtande einraͤumt, und welche noch et-
was genauer zu pruͤfen iſt.
1. Die Bedeutung der Geſetzgebung fuͤr die Rechtsbil-
dung iſt ſo eben im Gegenſatz zu v. Savigny’s Lehre be-
ſchraͤnkt worden; aber von einer andern Seite betrachtet, ſcheint
ſie von ihm nicht hoch genug angeſchlagen zu ſeyn. Sie ſoll
das Volksrecht nachhelfend ergaͤnzen und es ſpaͤter in Verbin-
dung mit dem Juriſtenſtande fortfuͤhren. Allein jene beſchraͤnkte
Aufgabe, welche ihr fuͤr die fruͤhere Periode angewieſen iſt,
entſpricht nicht ganz dem maͤchtigen Einfluß, den zu allen Zei-
ten und bei allen Voͤlkern die ſchaffende und ordnende Kraft,
die bewußte That des Geſetzgebers ausgeuͤbt hat. Das Pri-
vatrecht freilich pflegt den Weg der ſtillen, naiven Entwicklung
zu gehen, und bedarf nur unter beſondern Verhaͤltniſſen einer
umfaſſenden legislativen Feſtſtellung; aber in dem Privatrecht
iſt nicht das ganze Recht, nicht einmal der wichtigſte Theil
deſſelben enthalten. Das oͤffentliche Recht in ſeinem weiteſten
Umfange pflegt ſich nicht auf eine ſo friedliche, leichte Weiſe
zu geſtalten. Allerdings iſt auch hier die im Volke ruhende
Kraft und Begabung, gewiſſermaaßen ſeine Ausſteuer fuͤr den
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Beſeler, Volksrecht. 5
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Beseler, Georg: Volksrecht und Juristenrecht. Leipzig, 1843, S. 65. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beseler_volksrecht_1843/77>, abgerufen am 18.07.2024.
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