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Beseler, Georg: Volksrecht und Juristenrecht. Leipzig, 1843.

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Zehntes Kapitel.
Muster für spätere Arbeiten ähnlicher Art, sondern es wirkte
auch wieder auf die Theorie zurück und galt so gut wie eine
ausgezeichnete Schrift oder ein tüchtiges Präjudicat als eine
neue Auctorität. Suchten nun aber die Juristen auch ihre
theoretischen Ueberzeugungen, soweit es ihnen möglich war, in
die von ihnen bearbeiteten Gesetze zu bringen, so sahen sie sich
doch oft veranlaßt, den Anforderungen der Sitte und des Le-
bens nachzugeben, und solche Bestimmungen, welche sie von
ihrem besonderen Standpuncte aus nie zu vertheidigen gewagt
hätten, mit einer gesetzlichen Sanction zu bekleiden. Dadurch
ward denn für das Juristenrecht selbst eine weitere Entwick-
lung vorbereitet, indem man sich allmälig daran gewöhnte,
das in den Gesetzen enthaltene Material wiederum für eine
freiere juristische Deduction zu benutzen, und also ein neues
Element in den Kreis seiner Vorstellungen aufzunehmen. Auf
diese Weise ist es geschehen, daß sich die germanistische Rich-
tung in unserer Jurisprudenz an den Landrechten und Sta-
tuten, welche von dem einheimischen Recht noch so Vieles be-
wahrt hatten, zu einer gemeinrechtlichen Theorie entfalten
konnte. Das gilt freilich zunächst nur von den Particularge-
setzen; für die Reichsgesetze, welche unmittelbar gemeines Recht
enthielten, mußte sich die Sache anders verhalten. Indessen
kommt doch auch hier zur Erwägung, daß sie selten eine voll-
ständige Legislation aufzuweisen hatten, sondern oft nur die
Anfänge einer neuen Rechtsbildung, welche dann von den Ju-
risten weiter fortgeführt wurde; und dann, daß sie nicht im-
mer sogleich zur unmittelbaren Geltung kamen, sondern erst
allmälig durch die Juristen dazu gelangten. In diesen beiden
Beziehungen ward der Inhalt der Reichsgesetze also gewisser-
maaßen zu einem Juristenrecht umgebildet, wie sich recht deut-

Zehntes Kapitel.
Muſter fuͤr ſpaͤtere Arbeiten aͤhnlicher Art, ſondern es wirkte
auch wieder auf die Theorie zuruͤck und galt ſo gut wie eine
ausgezeichnete Schrift oder ein tuͤchtiges Praͤjudicat als eine
neue Auctoritaͤt. Suchten nun aber die Juriſten auch ihre
theoretiſchen Ueberzeugungen, ſoweit es ihnen moͤglich war, in
die von ihnen bearbeiteten Geſetze zu bringen, ſo ſahen ſie ſich
doch oft veranlaßt, den Anforderungen der Sitte und des Le-
bens nachzugeben, und ſolche Beſtimmungen, welche ſie von
ihrem beſonderen Standpuncte aus nie zu vertheidigen gewagt
haͤtten, mit einer geſetzlichen Sanction zu bekleiden. Dadurch
ward denn fuͤr das Juriſtenrecht ſelbſt eine weitere Entwick-
lung vorbereitet, indem man ſich allmaͤlig daran gewoͤhnte,
das in den Geſetzen enthaltene Material wiederum fuͤr eine
freiere juriſtiſche Deduction zu benutzen, und alſo ein neues
Element in den Kreis ſeiner Vorſtellungen aufzunehmen. Auf
dieſe Weiſe iſt es geſchehen, daß ſich die germaniſtiſche Rich-
tung in unſerer Jurisprudenz an den Landrechten und Sta-
tuten, welche von dem einheimiſchen Recht noch ſo Vieles be-
wahrt hatten, zu einer gemeinrechtlichen Theorie entfalten
konnte. Das gilt freilich zunaͤchſt nur von den Particularge-
ſetzen; fuͤr die Reichsgeſetze, welche unmittelbar gemeines Recht
enthielten, mußte ſich die Sache anders verhalten. Indeſſen
kommt doch auch hier zur Erwaͤgung, daß ſie ſelten eine voll-
ſtaͤndige Legislation aufzuweiſen hatten, ſondern oft nur die
Anfaͤnge einer neuen Rechtsbildung, welche dann von den Ju-
riſten weiter fortgefuͤhrt wurde; und dann, daß ſie nicht im-
mer ſogleich zur unmittelbaren Geltung kamen, ſondern erſt
allmaͤlig durch die Juriſten dazu gelangten. In dieſen beiden
Beziehungen ward der Inhalt der Reichsgeſetze alſo gewiſſer-
maaßen zu einem Juriſtenrecht umgebildet, wie ſich recht deut-

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[314/0326] Zehntes Kapitel. Muſter fuͤr ſpaͤtere Arbeiten aͤhnlicher Art, ſondern es wirkte auch wieder auf die Theorie zuruͤck und galt ſo gut wie eine ausgezeichnete Schrift oder ein tuͤchtiges Praͤjudicat als eine neue Auctoritaͤt. Suchten nun aber die Juriſten auch ihre theoretiſchen Ueberzeugungen, ſoweit es ihnen moͤglich war, in die von ihnen bearbeiteten Geſetze zu bringen, ſo ſahen ſie ſich doch oft veranlaßt, den Anforderungen der Sitte und des Le- bens nachzugeben, und ſolche Beſtimmungen, welche ſie von ihrem beſonderen Standpuncte aus nie zu vertheidigen gewagt haͤtten, mit einer geſetzlichen Sanction zu bekleiden. Dadurch ward denn fuͤr das Juriſtenrecht ſelbſt eine weitere Entwick- lung vorbereitet, indem man ſich allmaͤlig daran gewoͤhnte, das in den Geſetzen enthaltene Material wiederum fuͤr eine freiere juriſtiſche Deduction zu benutzen, und alſo ein neues Element in den Kreis ſeiner Vorſtellungen aufzunehmen. Auf dieſe Weiſe iſt es geſchehen, daß ſich die germaniſtiſche Rich- tung in unſerer Jurisprudenz an den Landrechten und Sta- tuten, welche von dem einheimiſchen Recht noch ſo Vieles be- wahrt hatten, zu einer gemeinrechtlichen Theorie entfalten konnte. Das gilt freilich zunaͤchſt nur von den Particularge- ſetzen; fuͤr die Reichsgeſetze, welche unmittelbar gemeines Recht enthielten, mußte ſich die Sache anders verhalten. Indeſſen kommt doch auch hier zur Erwaͤgung, daß ſie ſelten eine voll- ſtaͤndige Legislation aufzuweiſen hatten, ſondern oft nur die Anfaͤnge einer neuen Rechtsbildung, welche dann von den Ju- riſten weiter fortgefuͤhrt wurde; und dann, daß ſie nicht im- mer ſogleich zur unmittelbaren Geltung kamen, ſondern erſt allmaͤlig durch die Juriſten dazu gelangten. In dieſen beiden Beziehungen ward der Inhalt der Reichsgeſetze alſo gewiſſer- maaßen zu einem Juriſtenrecht umgebildet, wie ſich recht deut-

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Zitationshilfe: Beseler, Georg: Volksrecht und Juristenrecht. Leipzig, 1843, S. 314. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beseler_volksrecht_1843/326>, abgerufen am 17.05.2024.