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Beseler, Georg: Volksrecht und Juristenrecht. Leipzig, 1843.

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Das Volksrecht und das Gerichtswesen.
trennten Gebiete neben einander befinden, sondern das Erstere
oft unmittelbar in dem Letzteren enthalten ist, und von dem-
selben bestimmt und bedingt wird. Es kommt dann für den
Richter darauf an, die in den Thatsachen ruhende Rechtsregel
in der Weise zu erfassen, daß sie ihrer allgemeinen Natur
nach und mit den besonderen Modificationen des einzelnen Falls
richtig erkannt wird. Diese Berücksichtigung der thatsächlichen
Verhältnisse, auf welcher die Herrschaft der bona fides be-
ruht, ist namentlich in Civilsachen unerläßlich, wenn nicht statt
einer lebendigen, das Wesen der Dinge durchdringenden Ge-
rechtigkeit ein starres Formenwesen oder gar die bloß das Aeu-
ßerliche erfassende Urtheilsfabrication einer oberflächlichen Rou-
tine zur Geltung gelangen soll; sie setzt aber auch den practi-
schen Blick und die Umsicht und Erfahrung des verständigen
Geschäftsmanns voraus, -- Eigenschaften, welche sich der Ju-
rist wohl im Allgemeinen für sein Fach, aber unmöglich für
alle zu seiner Cognition kommenden Rechtsverhältnisse verschaf-
fen kann, zumal in der modernen Welt, für die sich, im Ge-
gensatz zu der antiken, mit der Fülle und verworrenen Man-
nichfaltigkeit der Lebensverhältnisse auch die Schwierigkeit, sie
nach allen Seiten hin richtig und sicher aufzufassen, unendlich
gesteigert hat. Aus diesem Grunde erscheint die ausschließliche
Besetzung der Civilgerichte mit Juristen sehr bedenklich; aber
auch für die Criminalgerichte verhält es sich nicht anders. Im
Allgemeinen tritt freilich in peinlichen Sachen die Rechtsregel
den Thatsachen, auf welche sie angewandt werden soll, be-
stimmter gegenüber, als es in Civilsachen der Fall zu seyn
pflegt; denn in dem Verbrechen selbst kann nicht die Norm
seiner Beurtheilung liegen, sondern diese steht schon an und
für sich fest, und wird demselben als Strafe feindlich gegen-

Das Volksrecht und das Gerichtsweſen.
trennten Gebiete neben einander befinden, ſondern das Erſtere
oft unmittelbar in dem Letzteren enthalten iſt, und von dem-
ſelben beſtimmt und bedingt wird. Es kommt dann fuͤr den
Richter darauf an, die in den Thatſachen ruhende Rechtsregel
in der Weiſe zu erfaſſen, daß ſie ihrer allgemeinen Natur
nach und mit den beſonderen Modificationen des einzelnen Falls
richtig erkannt wird. Dieſe Beruͤckſichtigung der thatſaͤchlichen
Verhaͤltniſſe, auf welcher die Herrſchaft der bona fides be-
ruht, iſt namentlich in Civilſachen unerlaͤßlich, wenn nicht ſtatt
einer lebendigen, das Weſen der Dinge durchdringenden Ge-
rechtigkeit ein ſtarres Formenweſen oder gar die bloß das Aeu-
ßerliche erfaſſende Urtheilsfabrication einer oberflaͤchlichen Rou-
tine zur Geltung gelangen ſoll; ſie ſetzt aber auch den practi-
ſchen Blick und die Umſicht und Erfahrung des verſtaͤndigen
Geſchaͤftsmanns voraus, — Eigenſchaften, welche ſich der Ju-
riſt wohl im Allgemeinen fuͤr ſein Fach, aber unmoͤglich fuͤr
alle zu ſeiner Cognition kommenden Rechtsverhaͤltniſſe verſchaf-
fen kann, zumal in der modernen Welt, fuͤr die ſich, im Ge-
genſatz zu der antiken, mit der Fuͤlle und verworrenen Man-
nichfaltigkeit der Lebensverhaͤltniſſe auch die Schwierigkeit, ſie
nach allen Seiten hin richtig und ſicher aufzufaſſen, unendlich
geſteigert hat. Aus dieſem Grunde erſcheint die ausſchließliche
Beſetzung der Civilgerichte mit Juriſten ſehr bedenklich; aber
auch fuͤr die Criminalgerichte verhaͤlt es ſich nicht anders. Im
Allgemeinen tritt freilich in peinlichen Sachen die Rechtsregel
den Thatſachen, auf welche ſie angewandt werden ſoll, be-
ſtimmter gegenuͤber, als es in Civilſachen der Fall zu ſeyn
pflegt; denn in dem Verbrechen ſelbſt kann nicht die Norm
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fuͤr ſich feſt, und wird demſelben als Strafe feindlich gegen-

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[261/0273] Das Volksrecht und das Gerichtsweſen. trennten Gebiete neben einander befinden, ſondern das Erſtere oft unmittelbar in dem Letzteren enthalten iſt, und von dem- ſelben beſtimmt und bedingt wird. Es kommt dann fuͤr den Richter darauf an, die in den Thatſachen ruhende Rechtsregel in der Weiſe zu erfaſſen, daß ſie ihrer allgemeinen Natur nach und mit den beſonderen Modificationen des einzelnen Falls richtig erkannt wird. Dieſe Beruͤckſichtigung der thatſaͤchlichen Verhaͤltniſſe, auf welcher die Herrſchaft der bona fides be- ruht, iſt namentlich in Civilſachen unerlaͤßlich, wenn nicht ſtatt einer lebendigen, das Weſen der Dinge durchdringenden Ge- rechtigkeit ein ſtarres Formenweſen oder gar die bloß das Aeu- ßerliche erfaſſende Urtheilsfabrication einer oberflaͤchlichen Rou- tine zur Geltung gelangen ſoll; ſie ſetzt aber auch den practi- ſchen Blick und die Umſicht und Erfahrung des verſtaͤndigen Geſchaͤftsmanns voraus, — Eigenſchaften, welche ſich der Ju- riſt wohl im Allgemeinen fuͤr ſein Fach, aber unmoͤglich fuͤr alle zu ſeiner Cognition kommenden Rechtsverhaͤltniſſe verſchaf- fen kann, zumal in der modernen Welt, fuͤr die ſich, im Ge- genſatz zu der antiken, mit der Fuͤlle und verworrenen Man- nichfaltigkeit der Lebensverhaͤltniſſe auch die Schwierigkeit, ſie nach allen Seiten hin richtig und ſicher aufzufaſſen, unendlich geſteigert hat. Aus dieſem Grunde erſcheint die ausſchließliche Beſetzung der Civilgerichte mit Juriſten ſehr bedenklich; aber auch fuͤr die Criminalgerichte verhaͤlt es ſich nicht anders. Im Allgemeinen tritt freilich in peinlichen Sachen die Rechtsregel den Thatſachen, auf welche ſie angewandt werden ſoll, be- ſtimmter gegenuͤber, als es in Civilſachen der Fall zu ſeyn pflegt; denn in dem Verbrechen ſelbſt kann nicht die Norm ſeiner Beurtheilung liegen, ſondern dieſe ſteht ſchon an und fuͤr ſich feſt, und wird demſelben als Strafe feindlich gegen-

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Zitationshilfe: Beseler, Georg: Volksrecht und Juristenrecht. Leipzig, 1843, S. 261. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beseler_volksrecht_1843/273>, abgerufen am 21.05.2024.