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Beseler, Georg: Kommentar über das Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten. Leipzig, 1851.

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§. 139. Mehrfache Ehe.
Sinne, daß ihm die Kenntniß von dem Fortbestande der früheren Ehe
positiv müsse nachgewiesen werden.

In dieser letzteren Auffassung ist die richtige Ansicht, wenn auch
nicht in der gehörigen Bestimmtheit ausgesprochen worden. Im Allge-
meinen nämlich ist bei der Bigamie wie bei allen anderen Verbrechen,
bei welchen nicht das Gegentheil ausgedrückt ist, der strafrechtliche Dolus
für den Thatbestand wesentlich. Allein dieser Dolus besteht nicht noth-
wendig in dem positiv bösen Willen; auch der frevelhafte Leichtsinn, die
luxuria als die höchste Steigerung des Versehens, in welcher derselbe
in den Dolus hinüberreicht, kann die Voraussetzung der Strafanwen-
dung begründen, und das wird der Fall sein, wenn der Ehegatte bei
Eingehung einer neuen Ehe sich nicht von der Auflösung der früheren
überzeugt hat. Ob er überzeugt gewesen, ob er Grund hatte, sich für
überzeugt zu halten, -- das ist von dem erkennenden Richter nach all-
gemeinen Grundsätzen zu entscheiden, ohne daß von Beweis und Gegen-
beweis die Rede sein kann. f) Wollte man aber weiter gehen, und die
Bigamie zu den Delikten zählen, bei denen überhaupt die Fahrlässigkeit
zum Thatbestande genügt, so würde man mit den allgemeinen Grund-
sätzen des Strafgesetzbuchs in Widerspruch treten und genöthigt sein,
auf Handlungen, bei denen ein bloßes Versehen und ein geringer Grad
der Verschuldung vorliegen kann, die schwere Strafe der Verbrechen
anzuwenden. Denn es ist nicht zu übersehen, daß bei der Bigamie die
Berücksichtigung mildernder Umstände nicht zugelassen ist.

III. Es ist schon bemerkt worden, daß außer dem Bigamus auch
die unverheirathete Person, welche denselben im Bewußtsein der Schuld
heirathet, mit der vollen gesetzlichen Strafe des Verbrechens bedroht
wird. Das Allgemeine Landrecht (II. 20. §. 1067.) und die meisten
neueren Gesetzgebungen haben für diesen Fall eine mildere Strafe, wäh-
rend das Rheinische Recht denselben gar nicht berücksichtigt. Die Be-
stimmung des Gesetzbuchs beruht auf der Erwägung, daß der Unverhei-
rathete als der Verführer der schuldigere Theil sein kann. Da hier
von wissentlicher und vorsätzlicher Konkurrenz eines Hauptgehülfen
und nur von dem Strafmaaß im Allgemeinen die Rede sei, so

f) Vgl. Chauveau et Helie Faustin l. c. p. 93. -- Der Code penal
von 1791. bestimmte: En cas d'execution de ce crime (de bigamie) l'excep-
tion de la bonne foi pourra etre admise, lorsqu'elle sera prouvee.
Dieß
erklärte sehr treffend ein Urtheil des Kassationshofs dahin "que la bonne foi dont
parle la loi consiste, non dans les motifs, quelque forts qu'ils soient, qui
peuvent determiner a un second mariage pendant l'existence du premier,
mais dans l'opinion raisonnable, fondee sur de tres-fortes probabilites qui
portent a croire a la dissolution du premier mariage.

§. 139. Mehrfache Ehe.
Sinne, daß ihm die Kenntniß von dem Fortbeſtande der früheren Ehe
poſitiv müſſe nachgewieſen werden.

In dieſer letzteren Auffaſſung iſt die richtige Anſicht, wenn auch
nicht in der gehörigen Beſtimmtheit ausgeſprochen worden. Im Allge-
meinen nämlich iſt bei der Bigamie wie bei allen anderen Verbrechen,
bei welchen nicht das Gegentheil ausgedrückt iſt, der ſtrafrechtliche Dolus
für den Thatbeſtand weſentlich. Allein dieſer Dolus beſteht nicht noth-
wendig in dem poſitiv böſen Willen; auch der frevelhafte Leichtſinn, die
luxuria als die höchſte Steigerung des Verſehens, in welcher derſelbe
in den Dolus hinüberreicht, kann die Vorausſetzung der Strafanwen-
dung begründen, und das wird der Fall ſein, wenn der Ehegatte bei
Eingehung einer neuen Ehe ſich nicht von der Auflöſung der früheren
überzeugt hat. Ob er überzeugt geweſen, ob er Grund hatte, ſich für
überzeugt zu halten, — das iſt von dem erkennenden Richter nach all-
gemeinen Grundſätzen zu entſcheiden, ohne daß von Beweis und Gegen-
beweis die Rede ſein kann. f) Wollte man aber weiter gehen, und die
Bigamie zu den Delikten zählen, bei denen überhaupt die Fahrläſſigkeit
zum Thatbeſtande genügt, ſo würde man mit den allgemeinen Grund-
ſätzen des Strafgeſetzbuchs in Widerſpruch treten und genöthigt ſein,
auf Handlungen, bei denen ein bloßes Verſehen und ein geringer Grad
der Verſchuldung vorliegen kann, die ſchwere Strafe der Verbrechen
anzuwenden. Denn es iſt nicht zu überſehen, daß bei der Bigamie die
Berückſichtigung mildernder Umſtände nicht zugelaſſen iſt.

III. Es iſt ſchon bemerkt worden, daß außer dem Bigamus auch
die unverheirathete Perſon, welche denſelben im Bewußtſein der Schuld
heirathet, mit der vollen geſetzlichen Strafe des Verbrechens bedroht
wird. Das Allgemeine Landrecht (II. 20. §. 1067.) und die meiſten
neueren Geſetzgebungen haben für dieſen Fall eine mildere Strafe, wäh-
rend das Rheiniſche Recht denſelben gar nicht berückſichtigt. Die Be-
ſtimmung des Geſetzbuchs beruht auf der Erwägung, daß der Unverhei-
rathete als der Verführer der ſchuldigere Theil ſein kann. Da hier
von wiſſentlicher und vorſätzlicher Konkurrenz eines Hauptgehülfen
und nur von dem Strafmaaß im Allgemeinen die Rede ſei, ſo

f) Vgl. Chauveau et Hélie Faustin l. c. p. 93. — Der Code pénal
von 1791. beſtimmte: En cas d'exécution de ce crime (de bigamie) l'excep-
tion de la bonne foi pourra ètre admise, lorsqu'elle sera prouvée.
Dieß
erklärte ſehr treffend ein Urtheil des Kaſſationshofs dahin „que la bonne foi dont
parle la loi consiste, non dans les motifs, quelque forts qu'ils soient, qui
peuvent déterminer à un second mariage pendant l'existence du premier,
mais dans l'opinion raisonnable, fondée sur de très-fortes probabilités qui
portent à croire à la dissolution du premier mariage.
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[307/0317] §. 139. Mehrfache Ehe. Sinne, daß ihm die Kenntniß von dem Fortbeſtande der früheren Ehe poſitiv müſſe nachgewieſen werden. In dieſer letzteren Auffaſſung iſt die richtige Anſicht, wenn auch nicht in der gehörigen Beſtimmtheit ausgeſprochen worden. Im Allge- meinen nämlich iſt bei der Bigamie wie bei allen anderen Verbrechen, bei welchen nicht das Gegentheil ausgedrückt iſt, der ſtrafrechtliche Dolus für den Thatbeſtand weſentlich. Allein dieſer Dolus beſteht nicht noth- wendig in dem poſitiv böſen Willen; auch der frevelhafte Leichtſinn, die luxuria als die höchſte Steigerung des Verſehens, in welcher derſelbe in den Dolus hinüberreicht, kann die Vorausſetzung der Strafanwen- dung begründen, und das wird der Fall ſein, wenn der Ehegatte bei Eingehung einer neuen Ehe ſich nicht von der Auflöſung der früheren überzeugt hat. Ob er überzeugt geweſen, ob er Grund hatte, ſich für überzeugt zu halten, — das iſt von dem erkennenden Richter nach all- gemeinen Grundſätzen zu entſcheiden, ohne daß von Beweis und Gegen- beweis die Rede ſein kann. f) Wollte man aber weiter gehen, und die Bigamie zu den Delikten zählen, bei denen überhaupt die Fahrläſſigkeit zum Thatbeſtande genügt, ſo würde man mit den allgemeinen Grund- ſätzen des Strafgeſetzbuchs in Widerſpruch treten und genöthigt ſein, auf Handlungen, bei denen ein bloßes Verſehen und ein geringer Grad der Verſchuldung vorliegen kann, die ſchwere Strafe der Verbrechen anzuwenden. Denn es iſt nicht zu überſehen, daß bei der Bigamie die Berückſichtigung mildernder Umſtände nicht zugelaſſen iſt. III. Es iſt ſchon bemerkt worden, daß außer dem Bigamus auch die unverheirathete Perſon, welche denſelben im Bewußtſein der Schuld heirathet, mit der vollen geſetzlichen Strafe des Verbrechens bedroht wird. Das Allgemeine Landrecht (II. 20. §. 1067.) und die meiſten neueren Geſetzgebungen haben für dieſen Fall eine mildere Strafe, wäh- rend das Rheiniſche Recht denſelben gar nicht berückſichtigt. Die Be- ſtimmung des Geſetzbuchs beruht auf der Erwägung, daß der Unverhei- rathete als der Verführer der ſchuldigere Theil ſein kann. Da hier von wiſſentlicher und vorſätzlicher Konkurrenz eines Hauptgehülfen und nur von dem Strafmaaß im Allgemeinen die Rede ſei, ſo f) Vgl. Chauveau et Hélie Faustin l. c. p. 93. — Der Code pénal von 1791. beſtimmte: En cas d'exécution de ce crime (de bigamie) l'excep- tion de la bonne foi pourra ètre admise, lorsqu'elle sera prouvée. Dieß erklärte ſehr treffend ein Urtheil des Kaſſationshofs dahin „que la bonne foi dont parle la loi consiste, non dans les motifs, quelque forts qu'ils soient, qui peuvent déterminer à un second mariage pendant l'existence du premier, mais dans l'opinion raisonnable, fondée sur de très-fortes probabilités qui portent à croire à la dissolution du premier mariage.

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Zitationshilfe: Beseler, Georg: Kommentar über das Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten. Leipzig, 1851, S. 307. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beseler_kommentar_1851/317>, abgerufen am 27.04.2024.