daß der Prediger zu Wahren, mit Namen Cotta, der sonst ein gut Gerüchte wegen seiner Fröm- migkeit gehabt, seinen Verstand verlohren hatte, so daß man ihm einen Substitutum setzen müssen. Es kamen wider meinen Willen mir von dieses Mannes Kranckheit so viel Historien in meine Ohren, so daß ich nicht anders schliessen kunte, als daß er eben ein solches Temperament, als ich, haben müste, und daß es mir leicht eben noch so gehen könte. Da einmahl der Kummer des- halben am grösten, kommt der Prediger von Klein-Zschocher, M. Schultze, nach Leipzig, und besucht mich. Es war ein munterer und auf- geweckter Mann, wie er es noch ist: alles lebete an ihm vor Lust und Freude. Er redete und schrye mir die Ohren voll, welches Melancholi- cis eine unerträgliche Sache ist, und mir ward dabey so angst, daß es nicht viel fehlte, ich hätte selbst laut zu schreyen angefangen; wie ich denn ietzt gar wohl begreiffe, warum Melancholici, die gerne in der Stille, ihrem heimlichen Anlie- gen, und Sorgen nachdencken wollen, keinen Tumult noch Lermen, gleich den Sterbenden, vertragen können, sondern darüber vor Angst des Geistes zu schreyen anfangen.
Anno
ſo gleichen Ubeln unterworffen:
daß der Prediger zu Wahren, mit Namen Cotta, der ſonſt ein gut Geruͤchte wegen ſeiner Froͤm- migkeit gehabt, ſeinen Verſtand verlohren hatte, ſo daß man ihm einen Subſtitutum ſetzen muͤſſen. Es kamen wider meinen Willen mir von dieſes Mannes Kranckheit ſo viel Hiſtorien in meine Ohren, ſo daß ich nicht anders ſchlieſſen kunte, als daß er eben ein ſolches Temperament, als ich, haben muͤſte, und daß es mir leicht eben noch ſo gehen koͤnte. Da einmahl der Kummer des- halben am groͤſten, kommt der Prediger von Klein-Zſchocher, M. Schultze, nach Leipzig, und beſucht mich. Es war ein munterer und auf- geweckter Mann, wie er es noch iſt: alles lebete an ihm vor Luſt und Freude. Er redete und ſchrye mir die Ohren voll, welches Melancholi- cis eine unertraͤgliche Sache iſt, und mir ward dabey ſo angſt, daß es nicht viel fehlte, ich haͤtte ſelbſt laut zu ſchreyen angefangen; wie ich denn ietzt gar wohl begreiffe, warum Melancholici, die gerne in der Stille, ihrem heimlichen Anlie- gen, und Sorgen nachdencken wollen, keinen Tumult noch Lermen, gleich den Sterbenden, vertragen koͤnnen, ſondern daruͤber vor Angſt des Geiſtes zu ſchreyen anfangen.
Anno
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ſo gleichen Ubeln unterworffen:
daß der Prediger zu Wahren, mit Namen Cotta,
der ſonſt ein gut Geruͤchte wegen ſeiner Froͤm-
migkeit gehabt, ſeinen Verſtand verlohren hatte,
ſo daß man ihm einen Subſtitutum ſetzen muͤſſen.
Es kamen wider meinen Willen mir von dieſes
Mannes Kranckheit ſo viel Hiſtorien in meine
Ohren, ſo daß ich nicht anders ſchlieſſen kunte,
als daß er eben ein ſolches Temperament, als ich,
haben muͤſte, und daß es mir leicht eben noch ſo
gehen koͤnte. Da einmahl der Kummer des-
halben am groͤſten, kommt der Prediger von
Klein-Zſchocher, M. Schultze, nach Leipzig, und
beſucht mich. Es war ein munterer und auf-
geweckter Mann, wie er es noch iſt: alles lebete
an ihm vor Luſt und Freude. Er redete und
ſchrye mir die Ohren voll, welches Melancholi-
cis eine unertraͤgliche Sache iſt, und mir ward
dabey ſo angſt, daß es nicht viel fehlte, ich haͤtte
ſelbſt laut zu ſchreyen angefangen; wie ich denn
ietzt gar wohl begreiffe, warum Melancholici,
die gerne in der Stille, ihrem heimlichen Anlie-
gen, und Sorgen nachdencken wollen, keinen
Tumult noch Lermen, gleich den Sterbenden,
vertragen koͤnnen, ſondern daruͤber vor Angſt des
Geiſtes zu ſchreyen anfangen.
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Bernd, Adam: Eigene Lebens-Beschreibung. Leipzig, 1738, S. 610. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bernd_lebensbeschreibung_1738/656>, abgerufen am 22.11.2024.
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