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Berlin, Rudolf: Eine besondere Art der Wortblindheit (Dyslexie). Wiesbaden, 1887.

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Störung der Farbenperception nicht recht in das Bild einer
stetig fortschreitenden Gehirnerkrankung; es könnte sich
ja aber möglicherweise um eine anfängliche Complication
gehandelt haben. Wie dem auch sei, in Anbetracht der
Neuheit und Seltenheit der Beobachtungen glaube ich
doch, dass wir den fraglichen Fall, ohne freilich ganz
auf die Kritik zu verzichten, in den Rahmen unserer
Lesestörung aufnehmen dürfen.

Dafür spricht namentlich der weitere Verlauf und
der später constatirte anatomische Befund, welche ihn den
unsrigen wieder näher rücken.

In dieser Richtung kann ich freilich nur Weniges
berichten, da Herr Dr. Steiner sich selbst eine aus-
führliche Mittheilung vorbehält.

Er sah die Patientin etwa zwei Jahre nach den be-
schriebenen Krankheitserscheinungen zum ersten Male, ohne
über dieselbe etwas Näheres zu erfahren, und beobachtete
sie nur kurze Zeit, d. h. bis zu ihrem, wenige Wochen
später erfolgenden Tode. Anamnestisch brachte er heraus,
dass sie früher an einer Störung im Lesen und an wieder-
holten epileptiformen Anfällen von wechselnder Intensität
gelitten habe. Der Status praesens ergab, der Haupt-
sache nach eine rechtsseitige Lähmung der oberen und
unteren Extremität und eine sensorielle Aphasie.

Aus diesem letzteren Symptome diagnosticirte St.
eine Erkrankung im linken Schläfelappen und zwar schloss
er aus dem Verlauf, dass es sich um einen Tumor han-
deln dürfte. Die Section bestätigte die Diagnose; sie
ergab ein hühnereigrosses Carcinom im linken Schläfelappen,
welches den letzteren fast ganz zerstört und auch die
3. Stirnwindung durch den von ihm ausgeübten Druck
in beträchtlichem Grade in Mitleidenschaft gezogen hatte.

Ueberblicken wir die pathologisch-anatomischen Be-
funde vom Standpunkte der Localisation, so haben wir
Folgendes zu constatiren:

Störung der Farbenperception nicht recht in das Bild einer
stetig fortschreitenden Gehirnerkrankung; es könnte sich
ja aber möglicherweise um eine anfängliche Complication
gehandelt haben. Wie dem auch sei, in Anbetracht der
Neuheit und Seltenheit der Beobachtungen glaube ich
doch, dass wir den fraglichen Fall, ohne freilich ganz
auf die Kritik zu verzichten, in den Rahmen unserer
Lesestörung aufnehmen dürfen.

Dafür spricht namentlich der weitere Verlauf und
der später constatirte anatomische Befund, welche ihn den
unsrigen wieder näher rücken.

In dieser Richtung kann ich freilich nur Weniges
berichten, da Herr Dr. Steiner sich selbst eine aus-
führliche Mittheilung vorbehält.

Er sah die Patientin etwa zwei Jahre nach den be-
schriebenen Krankheitserscheinungen zum ersten Male, ohne
über dieselbe etwas Näheres zu erfahren, und beobachtete
sie nur kurze Zeit, d. h. bis zu ihrem, wenige Wochen
später erfolgenden Tode. Anamnestisch brachte er heraus,
dass sie früher an einer Störung im Lesen und an wieder-
holten epileptiformen Anfällen von wechselnder Intensität
gelitten habe. Der Status praesens ergab, der Haupt-
sache nach eine rechtsseitige Lähmung der oberen und
unteren Extremität und eine sensorielle Aphasie.

Aus diesem letzteren Symptome diagnosticirte St.
eine Erkrankung im linken Schläfelappen und zwar schloss
er aus dem Verlauf, dass es sich um einen Tumor han-
deln dürfte. Die Section bestätigte die Diagnose; sie
ergab ein hühnereigrosses Carcinom im linken Schläfelappen,
welches den letzteren fast ganz zerstört und auch die
3. Stirnwindung durch den von ihm ausgeübten Druck
in beträchtlichem Grade in Mitleidenschaft gezogen hatte.

Ueberblicken wir die pathologisch-anatomischen Be-
funde vom Standpunkte der Localisation, so haben wir
Folgendes zu constatiren:

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[60/0064] Störung der Farbenperception nicht recht in das Bild einer stetig fortschreitenden Gehirnerkrankung; es könnte sich ja aber möglicherweise um eine anfängliche Complication gehandelt haben. Wie dem auch sei, in Anbetracht der Neuheit und Seltenheit der Beobachtungen glaube ich doch, dass wir den fraglichen Fall, ohne freilich ganz auf die Kritik zu verzichten, in den Rahmen unserer Lesestörung aufnehmen dürfen. Dafür spricht namentlich der weitere Verlauf und der später constatirte anatomische Befund, welche ihn den unsrigen wieder näher rücken. In dieser Richtung kann ich freilich nur Weniges berichten, da Herr Dr. Steiner sich selbst eine aus- führliche Mittheilung vorbehält. Er sah die Patientin etwa zwei Jahre nach den be- schriebenen Krankheitserscheinungen zum ersten Male, ohne über dieselbe etwas Näheres zu erfahren, und beobachtete sie nur kurze Zeit, d. h. bis zu ihrem, wenige Wochen später erfolgenden Tode. Anamnestisch brachte er heraus, dass sie früher an einer Störung im Lesen und an wieder- holten epileptiformen Anfällen von wechselnder Intensität gelitten habe. Der Status praesens ergab, der Haupt- sache nach eine rechtsseitige Lähmung der oberen und unteren Extremität und eine sensorielle Aphasie. Aus diesem letzteren Symptome diagnosticirte St. eine Erkrankung im linken Schläfelappen und zwar schloss er aus dem Verlauf, dass es sich um einen Tumor han- deln dürfte. Die Section bestätigte die Diagnose; sie ergab ein hühnereigrosses Carcinom im linken Schläfelappen, welches den letzteren fast ganz zerstört und auch die 3. Stirnwindung durch den von ihm ausgeübten Druck in beträchtlichem Grade in Mitleidenschaft gezogen hatte. Ueberblicken wir die pathologisch-anatomischen Be- funde vom Standpunkte der Localisation, so haben wir Folgendes zu constatiren:

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Zitationshilfe: Berlin, Rudolf: Eine besondere Art der Wortblindheit (Dyslexie). Wiesbaden, 1887, S. 60. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlin_wortblindheit_1887/64>, abgerufen am 23.11.2024.